„Lasst mich erst einmal sterben …“

Werbung
Werbung
Werbung

Am 5. September 1997 ist Mutter Teresa in Kalkutta gestorben, am 26. August wäre die 2003 selig gesprochene Ordensgründerin 100 Jahre alt geworden.

In dem ebenerdig gelegenen Saal sind die Fenster zur Straße hin weit geöffnet. Der dröhnende Lärm des Autoverkehrs, das unentwegte Hupen, das Quietschen der alten Straßenbahnen scheinen den ganzen Raum auszufüllen. Wegen des Staubs, der von der Straße hereingetrieben wird, muss der Boden dreimal am Tag aufgewaschen werden. Dennoch schließt niemand die Fenster. Das ist ein seltsames Vermächtnis der Frau, die unter einem großen weißen Quader an der einen Seite des Saals begraben liegt.

Auf dem Grab mit der Aufschrift „Mother Teresa 1910–1997“, stehen ein Kruzifix und eine Marienstatue. Aus frischen Blüten von Targetes die Worte gelegt: „Hands to serve and hearts to love“. Jeden Tag erneuern die Schwestern der „Kongregation der Missionarinnen der Nächstenliebe“ die Blumenschrift mit einem anderen Text. Die Fenster lassen sie offen, weil sie sich an das Wort der Gründerin ihres Ordens halten wollen: Sie sollten ruhig den Lärm aushalten, denn die Menschen, die auf der Straße leben, hätten auch keine Möglichkeit, sich davor zu schützen: „Der Lärm der Straße ist die Musik der Armen“, pflegte sie zu sagen.

Menschen aus aller Welt kommen

Das Grab ist eine Touristenattraktion von Kalkutta. Unentwegt kommen Menschen aus aller Welt vorbei, aber auch viele Einheimische, die keine Christen sind. Sie zünden Kerzen an, verharren in Stille, knien sich nieder zum Gebet. Während einige Schwestern an einem Brunnen im Hof Berge von Wäsche waschen, gehen die Besucher etwas befangen und respektvoll herum. Sie steigen auch die paar Stufen hinauf zur spartanisch eingerichteten kleinen Zelle von Mutter Teresa, in der sie – bereits im Rollstuhl – den Papst empfangen hat. Von der kleinen Terrasse redete sie zu ihren Schwestern.

Missionarinnen der Nächstenliebe

Die Gäste kommen auch an jenem naiven Bild vorbei, das eine Schleife der Eisenbahn hinauf in die Berge nach Darjeeling zeigt. Unter einem Kruzifix in der Mitte des Bildes steht Schwester Teresa und empfängt von Jesus die Berufung, das Leben als Lehrerin aufzugeben und sich nur noch um die Armen zu kümmern. Das war am 10. September 1946. Nachdem sie die Erlaubnis des Bischofs erhalten hatte, verließ sie den Orden der Loreto-Schwestern und gründete die Gemeinschaft der Missionarinnen der Nächstenliebe – Missionaries of Charity (MC).

Am 26. August jährt sich Mutter Teresas Geburtstag zum 100. Mal. In den 13 Jahren seit ihrem Tod ist die Kongregation von rund 3700 Schwestern auf über 5000 angewachsen, hat 765 Niederlassungen in 137 Ländern der Welt. Die Missionarinnen der Nächstenliebe werden heute von Mutter Mary Prema geführt, die einem vierköpfigen Leitungsgremium vorsteht. Wir trafen sie zu einem ausführlichen Gespräch in Kalkutta.

Ausgerechnet eine Deutsche …

Die Vermutung, dass die Schwestern ausgerechnet eine Deutsche zur Oberin gewählt haben, um eine starke Führung der sehr groß gewordenen Gemeinschaft zu bekommen, möchte Mary Prema nicht gelten lassen: „Ich habe einen deutschen Verdienstorden bekommen, dabei habe ich erst bemerkt, welche Reaktion meine Wahl in Deutschland ausgelöst hat.“ Sie selbst nimmt sich kaum noch als Deutsche wahr. Ihre Umgangssprachen sind Englisch und Bengali, ihre Kontakte international, für manche modernen Ausdrücke fehlen ihr die deutschen Begriffe.

Die enormen Aufgaben in der Führung einer weltweit operierenden Organisation spielt die Oberin herunter, aber allein die Aufzählung der Reisen, die sie machen muss, lassen das Maß der Belastung erahnen. Dass sie zu führen weiß, sagt sie nur nebenbei: „Wir sind zu viert und teilen uns die Aufgaben. Wir müssen alle Mütter werden. Aber die Letztentscheidende bin ich.“

Wie ist es, wenn man einer Seligen, Nobelpreisträgerin, einer von der ganzen Welt verehrten und bewunderten Person nachfolgt? Fühlt man die Schuhe nicht zu groß, in die man schlüpfen muss? Die Antwort, die Mary Prema darauf gibt, ist weder besonders bescheiden noch besonders selbstbewusst, sondern irgendwie selbstverständlich: „Wir folgen nicht Mutter Teresa, wir folgen Jesus.“

Immer wieder sagt Mutter Mary Prema, dass die Kongregation ein kontemplativer Orden sei. Die Schwestern halten jeden Tag eine Stunde Anbetung: „Wir machen keine Sozialarbeit, wir haben eine Mission. Wir möchten, dass alle Jesus kennenlernen“. Sie weiß, dass das Wort Mission heute nicht gern gehört wird und definiert es im Sinne von Mutter Teresa: „Sie hat ihre Leben gelebt, um die Liebe Jesu den Menschen weiterzugeben. Die Begegnung mit ihr haben viele Leben verändert.“

Dennoch ist die Sozialarbeit der Missionarinnen der Nächstenliebe exemplarisch, gerade auch in der indischen Gesellschaft. Die Schwestern führen Heime für ledige Mütter, die es in Indien besonders schwer haben und von Familie und Gesellschaft geächtet werden: „Während der Schwangerschaft werden sie versteckt und nach der Geburt wird Druck auf sie ausgeübt, das Kind herzugeben.“ Die Schwestern vermitteln zwar Adoptionen, aber nur wenn die Mutter ausdrücklich damit einverstanden ist.

Adoption ist ein Thema

Das Thema Adoption beschäftigt die Missionarinnen immer wieder. Neuerdings kämen viele indische Paare und wollen Kinder adoptieren. Sie werden von den Schwestern bevorzugt. „Erst wenn sich keine indischen Eltern finden, geben wir Kinder auch zur Adoption an Ausländer.“ Das sei aber in Indien ein äußerst kompliziertes rechtliches Verfahren. Einem Paar aus der Schweiz, das ein behindertes Kind adoptieren wollte, gaben die Schwestern einen abschlägigen Bescheid: „Wir geben keine behinderten Kinder zur Adoption. Sie zu pflegen, ist unsere eigene Berufung.“ Behinderte Kinder werden oft bei den Schwestern abgegeben. Mit einer im Ausland möglicherweise herrschenden Vorstellung über Kalkutta räumt Mutter Prema allerdings auf: „Es kommt nur sehr selten vor, dass wir auf der Straße ausgesetzte Kinder finden.“

Mutter Mary Prema wird immer wieder gefragt, ob Mutter Teresa Anweisungen hinterlassen habe, wie die Gemeinschaft nach ihrem Tod weiterzuführen sei. „Lassen Sie mich zuerst einmal sterben“, habe Mutter Teresa geantwortet, wenn sie danach gefragt wurde: „Wenn ich nicht mehr bei euch bin, werde ich euch mehr helfen können.“ Ihre Briefe, die noch zum geringsten Teil ediert sind und das Buch: „Komm, sei mein Licht“ seien den Schwestern aber eine wichtige Wegweisung, sagt Mutter Mary Prema.

Wie die Begegnung mit Mutter Teresa und den Missionarinnen der Nächstenliebe Leben verändern kann, kann man jeden Tag im Keller des Mutterhauses in Kalkutta erleben. Dort registriert und betreut eine koreanische Schwester die Freiwilligen, die aus aller Welt kommen, um den Schwestern zu helfen. Drei Tage ist die Mindestverpflichtung. Im „Sterbehaus“ von Kalighat arbeiten Lucia und Alejandra, junge Ärztinnen aus Madrid. „Wir wollen hier Mitleid lernen. Aber eigentlich bekommen wir viel mehr als wir geben.“

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung