Leben gegen Gleichgültigkeit

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Die Leidenschaft nicht zu verlieren, sei das wichtigste, was den Menschen zum Menschen macht, lehrte Elie Wiesel seine Studierenden. Erinnerungen an den am 2. Juli in New York verstorbenen Schriftsteller.

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Die Leidenschaft nicht zu verlieren, sei das wichtigste, was den Menschen zum Menschen macht, lehrte Elie Wiesel seine Studierenden. Erinnerungen an den am 2. Juli in New York verstorbenen Schriftsteller.

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Don' t loose your passion!", sagte Elie Wiesel uns Studierende in seinen Seminaren an der Boston University immer wieder mit eindrücklicher Hartnäckigkeit. Die Leidenschaft nicht zu verlieren - eine Leidenschaft, die vor allem auf das Schicksal anderer Menschen gerichtet ist, eine Leidenschaft für das Leben der Anderen -, sei das wichtigste, was den Menschen zum Menschen macht. Wer abstumpft, wer gleichgültig wird oder den Anderen erst gar nicht beachtet, handelt ebenso unmenschlich, wie der, der andere mit Verachtung straft: "Das Gegenteil von Liebe ist nicht Hass, sondern Gleichgültigkeit."

Elie Wiesel verstand sich in erster Linie als Schriftsteller und Lehrer. Kaum eine Seminarsitzung ließ er wegen auswärtiger Anfragen ausfallen. Uns Studierenden brachte er etwas entgegen, was in den Universitäten, aber auch gesamtgesellschaftlich zu häufig verloren geht: Aufmerksamkeit. Er wollte jede Teilnehmerin und jeden Teilnehmer seiner Lehrveranstaltungen persönlich kennen lernen. Beim ersten Gespräch sagte er mir: "Es ist gut, dass du da bist!" Das hatte mir zuvor noch kein Hochschullehrer gesagt. "So viel, wie du von mir lernen wirst, werde ich von dir lernen." Auch dies war - und ist - höchst ungewöhnlich für eine Beziehung zu einem Professor. Gerne griff er auf ein Bild aus dem Talmud zurück: Das Lehrer-Schüler-Verhältnis wird dort mit der Beziehung einer Kuh zu ihrem Kalb verglichen. Genauso wichtig, wie es für das Kalb ist, die Milch aufzunehmen, ist es für die Kuh, die Milch abzugeben.

"Alles ist möglich"

Das Motiv der Gleichgültigkeit stammt aus der eigenen Erfahrung. In Auschwitz fragte er verzweifelt seinen Vater, an den er sich als 15-Jähriger klammerte: "Wie ist es möglich, dass Menschen und Kinder verbrannt wurden, und die Menschheit dazu schweigt?" Mit versagender Stimme antwortete der Vater: "Die Menschheit? Die Menschheit interessiert sich nicht für uns. Heute ist alles erlaubt. Alles ist möglich, sogar die Gaskammern..." Dieser kleine Dialog aus "Die Nacht" (1956), Wiesels autobiografischem Bericht über die Zeit in den Lagern, enthält bereits in nuce das Zentrum des weiteren Schaffens: Die Frage nach dem Ort des Menschen angesichts des Leidens, die Frage nach dem Ort Gottes: Wo steht Gott, wenn Menschen leiden? Ist auch er ein unbeteiligter Zuschauer?

In vielen seiner Romane, die niemals von Auschwitz handeln, sondern vom Überleben nach Auschwitz, verarbeitet er das Thema des gleichgültigen Zuschauers, zum Beispiel im Roman "Gezeiten des Schweigens" (1962), in dem er einen Überlebenden der Lager in die Stadt seiner Kindheit zurückkehren lässt. Er hatte nämlich - so eine autobiografische Replik - einen Mann im gegenüberliegenden Haus am Fenster stehen sehen, als die Juden im Hof der Großen Synagoge zusammen getrieben und dann in die Todeslager deportiert wurden. Der Mann am Fenster zeigte keine Regung: Er hatte doch die Entscheidungen nicht getroffen! Er war doch nicht verantwortlich! Nun, lange nach dem Krieg, kommt der Überlebende "als Bote der Toten" zurück, stellt den "Zuschauer" zur Rede, wirft ihm seine Kälte, seine Gefühllosigkeit vor, hofft auf ein Zeichen der Rührung, der Menschlichkeit, des Bedauerns, eine Geste der Solidarität. Aber dann

"Der Kampf gegen Gleichgültigkeit ist ein Schlüsselwort meiner Weltanschauung", sagte Wiesel bei einer Konferenz in Deutschland, kurz bevor er 1986 den Friedensnobelpreis erhielt. Denn aus dem Widerstand gegen das Wegschauen und Nichteingreifen nimmt der Schriftsteller die Kraft, Unrecht und Verletzung der Menschenwürde überall auf dem Planeten anzuprangern. Einmal kam er etwas verspätet ins Seminar und erzählte, dass seine Seele noch in Bosnien und Serbien sei, von wo er soeben mit dem Flugzeug zurückkomme. Er habe als Sonderbeauftragter der UNO alle militärischen Anführer aufgesucht und ins Gesicht gefragt, ob sie Konzentrationslager errichtet hätten. "Sie alle haben mich angelogen, indem sie sagten, sie hätten keine Lager."

Die Gottesfrage durchzieht sein Werk und die Schriften. Als wir von den katholischen Jugendverbänden Wiesel 1992 zum Katholikentag nach Karlsruhe einluden, hatten wir die Idee, ihn direkt ins Gespräch mit den jungen Menschen zu bringen. 1500 Jugendliche diskutierten im großen Hörsaal seine Ausführungen und stellten ihm Fragen über Fragen, die er geduldig und empathisch beantwortete. Ob er angesichts des katastrophalen Leids noch an Gott glauben könne? Er antwortete, es sei ihm niemals leicht gefallen, wieder am Glauben anzuknüpfen. "Jedoch kann ich auch sagen, dass ich Gott trotz allem nie verlassen habe. Als Jude stehe ich in der Tradition Abrahams, Moses, Jeremias oder der Meister des Talmuds. Alle von ihnen hatten Probleme mit Gott. Gott hatte aber auch Probleme mit ihnen. Das ist okay." Er könne als Mensch mit Gott sein, für Gott oder auch gegen Gott, nie aber ohne Gott.

Genau diese Spannung wird zum Markenzeichen einer glaubenden Existenz, die Gott auf vielfältige Weise anklagt. Hin und wieder wird er als "Hiob von Auschwitz" bezeichnet, da er schon in den Lagern Gott herausforderte, wie er denn zuschauen könne, wenn seine Kinder "auf dem Altar geschlachtet" werden? In seinen biblischen, talmudischen und chassidischen Schriften kehrt Wiesel in die Welt der alten Meister zurück, um ihr Ringen mit Gott mit neuen Augen zu lesen - über den Abgrund aus Blut und Tränen hinweg. Wenn die Juden in der Geschichte in Unterdrückung und angesichts des Todes ihren Gott nicht verlassen haben, welches Recht, fragt sich Wiesel, habe ich dann, es zu tun? "Mein Ringen mit Gott führt mich nicht weg von ihm, sondern immer weiter auf ihn zu."

"Asyl ist immer ein Mensch"

Die Frage der Flüchtlinge auf der Welt beschäftigte ihn immer wieder, denn er selbst war Deportierter, Flüchtling, Heimatloser: "Asyl ist immer ein Mensch. Asyl ist ein Traum. Das ist der Grund, warum wir auf Erden sind: Wir sind hier, um füreinander da zu sein." Er hielt für mich als jungen Studenten einen weiteren Auftrag bereit: Versuche, sagte mir Wiesel in einem der Gespräche, deine eigene Tradition, die christliche, für dich als Quelle der Erlösung zu finden, aber versuche sie gleichzeitig zu reinigen von allen Spuren des Antijudaismus und Antisemitismus, des Hasses und der Verachtung anderer. - Bei unserem letzten Treffen 2014 in New York wirkte er müde, schwach, schon gezeichnet von Krankheit. Sein Geist und Verstand aber waren klar wie eh und je. "Continue!" sagte er eindrücklich, setze deine Arbeit fort, halte die Erinnerung lebendig! Continue - and don't loose your passion!"

Der Autor ist Prof. für Religionspädagogik an der Universität Tübingen

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