Leben neben der Leitplanke

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Die Autobahn als Ort zum Leben: Das seltsamste Roadmovie seit Langem ist „Home“, der Erstlings-Kinofilm der fantastischen jungen Schweizerin Ursula Meier.

Wie lebt es sich eigentlich neben der Autobahn? Seite an Seite mit dem Pannenstreifen, nur Meter entfernt vom Schwerverkehr? Dass das Leben neben einer mehrspurigen Straße krank machen kann, ist eine Binsenweisheit, die jeder Transitgegner im Schlaf weiß. Ursula Meier hat daraus ihren ersten Kinofilm konstruiert, über eine eigentlich ganz normale, liebevolle Familie, die am Straßenrand wohnt: Eine furiose Mischung aus Thriller, Sozialstudie, Komödie und Drama.

Eine leere Autobahn mitten im Nirgendwo wogender Getreidefelder, daneben ein Einfamilienhäuschen, ein Gemüsegarten, ein Liegestuhl: Die Familie von Marthe (Isabelle Huppert) und Michel (Olivier Gourmet) hat hier ein ganz spezielles Glück in der Einöde gefunden, in völliger Einsamkeit und Ruhe. Seit zehn Jahren schon ist die vierspurige Autobahn fertig, doch sie wurde nie in Betrieb genommen. Und so wurde aus der Straße keine Verkehrsader für Millionen, sondern der Spielplatz einer Familie. Auf dem Mittelstreifen stehen eine alte Couch, ein Gartengrill, ein Planschbecken. Am späten Nachmittag kommen Nachbarskinder von jenseits der Straße vorbei zum Streethockey. Um in die Schule und zur Arbeit zu kommen, queren Michel und die Kinder täglich die leere Autobahn. Irgendwo weit hinter dem Horizont liegt die nächste Stadt.

Bedrohliches Ungeheuer Auto

Doch eines Tages kommen, in grellorangen Anzügen und schweren Stiefeln, die Bauarbeiter. Bereiten die Straße auf die Eröffnung vor, malen den Mittelstreifen nach, räumen Spielzeug und Möbel von der Straße, bauen Leitplanken auf. Anfangs klettern Marte, Michel und die Kinder noch unverdrossen drüber. Doch dann, frühmorgens, das Radio hat es angekündigt: Das erste Auto. Es ist blau. Dann noch eines. Und dann, allmählich, setzt der Schwerverkehr ein, der zum bedrohlichen Ungeheuer wird.

Zu Beginn tun alle noch so, als wäre nichts geschehen, als wäre das ständige Dröhnen ganz leicht zu ignorieren. Nur die mittlere Tochter Marion zitiert Statistiken, wie tödlich der Feinstaub sei und wie giftig das Gemüse aus dem Garten neben der Straße. Die Älteste, Judith, die sich zuerst noch neben der Straße im Bikini sonnt, wird während eines Staus von einem Motorradfahrer angesprochen und haut mit ihm ab. Julien, der Nachzügler, ist völlig verschüchtert vom ohrenbetäubenden Autoverkehr. Michel installiert aufwändige Lärmschutzmauern vor den Fenstern. Und Marthe dreht allmählich durch …

Spiel mit den Genres

Auch wenn es um den Umweltfeind Massenverkehr geht, ist „Home“ kein Ökofilm, zumindest nicht in erster Linie. Vor allem ist er das Porträt einer Familie, in der mit ernsthafter Zärtlichkeit die Marotten der anderen respektiert werden, und deren Zusammenhalt an der Isolation durch den äußeren Feind Autobahn zu zerbrechen droht: Statt der großen Freiheit, die die Straße im Kino sonst bedeutet, der totale Rückzug.

Isabelle Huppert und der Dardenne-Schauspieler Olivier Gourmet agieren mit großer Selbstverständlichkeit in einem Film, der an Dialogen arm, an Bedeutungen aber umso reicher ist. Jene richtungweisenden Situationen, die in Familienfilmen üblicherweise am Tisch stattfinden, sind in „Home“ im Badezimmer inszeniert, während die Schwestern einander den Rücken schrubben, Marte ihrem Sohn das Haar kämmt oder Michel seine Frau im Spiegel beobachtet. Damit bekommt der Film eine Sinnlichkeit, die nicht erotisch aufgeladen ist, sondern familiäre Vertrautheit zeigt, wie sie nur selten im Kino zu sehen ist.

„Home“ ist ein Spiel mit den Genres, eine Parabel mit vielerlei Lesarten, ein „Roadmovie mit umgekehrten Vorzeichen“, wie die Regisseurin sagt. Vielleicht war die lange Arbeit am Drehbuch – insgesamt sechs Autoren nennt der Abspann – der Stringenz des Films etwas abträglich, ernstlich hat ihm das aber nicht geschadet. Schön, dass es diese Regisseurin gibt.

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CH/F/B 2008. Regie: Ursula Meier. Mit Isabelle Huppert, Olivier Gourmet.

Verleih: Polyfilm. 97 Min. Ab 4.9.

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