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Dimitré Dinev über die Bedeutung von Literatur, das gesprochene Wort und überraschendes Handeln.

Dimitré Dinev * 1968

Erzähler

Die Furche: Sie hätten Anton Tschechov eingeatmet, schrieben Sie über den Autor in der Furche. Auch Joseph Roth dürfte Sie beeinflusst haben, denn der Stil Ihrer Erzählungen "Ein Licht über dem Kopf" erinnert an ihn ...

Dimitré Dinev: Joseph Roth ist der östlichste der deutschsprachigen Autoren und was ihn mir so nahe macht, ist, dass er wie ein Märchenerzähler schreibt. Ich freue mich sehr, wenn ich mit einem solchen Autor verglichen werde.

Die Furche: Welche Bedeutung schreiben Sie Märchen denn heute zu?

Dinev: Durch Märchen lernt man zu erzählen und man braucht sie, um Werte zu vermitteln. Es wäre schlimm für eine Gesellschaft, wenn es keine Märchen mehr gäbe. Denn Märchen verschleiern das Schreckliche und zugleich offenbaren sie es auch. Man denke an 1001 Nacht. Dort wird Leben gegen eine gute Geschichte getauscht. Um diesen Tausch geht es. Geschichten können retten.

Die Furche: Durch Geschichten vermittelt sich das Leben ...

Dinev: Ja, deshalb glaube ich auch, dass das gesprochene Wort viel wirksamer ist. Märchen sollen erzählt werden. So ist die Verbindung von Wort und Fleisch viel leichter zu vermitteln. Solange man den Menschen vor Augen hat, der erzählt, begreift man, dass Wort und Fleisch das gleiche sind. Wer mir gegenübersteht und mit mir redet, der ist ein Körper, der ist verletzbar, der ist zu respektieren. Die Gesellschaft leidet darunter, dass immer abstrakter wird, was vermittelt wird.

Wenn ein konkreter Mensch vor dir steht und dir eine Geschichte erzählt,vielleicht sogar die eigene, wirst du so berührt davon, wie es nie eine Fernsehmeldung über ein noch so großes Unglück erreichen kann.

Die Furche: Konkrete literarische Figuren machen uns anderen gegenüber aufmerksamer?

Dinev: Eine solche Aufmerksamkeit kann man nicht durch Gesetze vermitteln. Der Mensch hat Autoritäten nicht so gerne, er hört lieber Geschichten. Ich vermittle, was in jedem Menschen vorhanden ist. Jeder Mensch folgt Gesetzen, die nicht von Regierungen beschlossen sind. Das interessiert mich: warum handelt der Mensch nach einem anderen Gesetz. Und nach welchem? Warum etwa fragt man, wenn einer nachts an die Tür klopft und Hilfe braucht, nicht nach dem Visum, sondern nimmt den Menschen auf? Würde man nach den staatlichen Gesetzen gehen, müsste man nach dem Visum fragen ...

Die Furche: Sie glauben also an das Gute im Menschen?

Dinev: Ich glaube, dass der Mensch weiß, was gut ist für ihn selber. Aber durch das Erzählen weiß er auch, was gut ist für den andern. Sein Leid kann sich relativieren. Wer über sich selbst gedacht hat, er ist ein unglücklicher Mensch, merkt nun: es gibt noch mehr Unglück auf der Welt. Er kann sich durch das Erzählen in Relation zu einem anderen setzen. Individualität ist für mich nur definiert nach dem Grad der Verantwortung, die einer übernimmt für den anderen. Die Tendenz geht leider dahin, dass man immer weniger Verantwortung übernimmt für den anderen, man kennt nicht einmal mehr seinen Nachbarn. Aber trotz des schlummernden Zustandes, in dem sich ein Mensch befinden kann, ist es möglich, dass er dann auf einmal so handelt, wie es keiner von ihm erwartet hätte. Ich habe es schon oft erlebt bei Menschen, die keine besonders guten Eigenschaften hatten, dass die plötzlich - ich weiß nicht warum - eine gute Tat vollbringen. Warum handelt ein Mensch auf einmal so? Das interessiert mich am Erzählen. Das macht Literatur aus. Daraus entstehen gute Geschichten. Alles andere sind bloße Theorien.

Die Furche: Literatur stellt Vielfalt dar ...

Dinev: Die Literatur kämpft gegen das Monopol der Geschichte. Jede Regierung bemüht sich, dem Volk die Geschichte des Landes zu vermitteln, im Sinne von: So ist es gewesen. Jede Macht braucht die Geschichte um zu regieren. Die Literatur kämpft dagegen und erzählt die unzähligen Varianten der Geschichte, die vielen Geschichten, sie zeigt, dass die Dinge viel komplexer und viel menschlicher sind. Die Literatur kämpft gegen Vorurteile, gegen das schnelle Bilden von Urteilen. Der Mensch soll zuerst nachdenken, bevor er urteilt oder gar einen Stein wirft. Wenn es nur die eine Geschichte gibt, dann ist die Gefahr groß, dass eine Gesellschaft mehr oder weniger barbarisch wird.

Die Furche: Wenn Literatur aufmerksamer macht für die vielen Geschichten und Gegenüber, müssten Leser eigentlich tolerantere Menschen sein ...

Dinev: Leser haben mit der Literatur ein Instrumentarium, um anderen gegenüber aufmerksamer zu sein - aber das macht sie noch lange nicht toleranter. Ihre Taten erst machen sie toleranter. Ich bin nicht dann ein guter Mensch, wenn ich alles so gut verstehe und tolerieren kann, sondern wenn ich gut handle. Die Geschichte hat uns gelehrt, dass Wissen und Kultur uns nicht gerettet haben. Besonders der Holocaust lässt zweifeln an guter Wirkung von Literatur und Wissen. Die Täter waren Gebildete, sie waren Leser ...

Das Gespräch führte Brigitte Schwens-Harrant.

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