Legitime Freiheitsräume SICHERN

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"Gesetze - neue wie reformierte - werden zwar von oben erlassen, aber müssen von unten, also von der Gemeinschaft gelebt werden."

"Jede Katholikin und jeder Katholik sollte das geltende Recht seiner/ihrer Kirche so gut wie möglich kennen bzw. kennenlernen, seine Stärken, aber auch seine Schwächen in Blick nehmen."

Anno 1917 -die katholische Kirche erlässt erstmals in ihrer Geschichte ein eigenes Gesetzbuch und betitelt es mit: Codex Iuris Canonici (CIC). Nicht dass die Kirche all die Jahre, ja Jahrhunderte vorher ohne Recht und Gesetz ausgekommen wäre. Im Gegenteil: Seit es die Kirche gibt, gibt es Recht und Gesetz in ihr sowie Sammlungen dieser Regeln und Gesetze. Warum? Um dem/der Einzelnen aufzuzeigen, was es heißt, die von Gott geschenkte Freiheit zu leben. Um ihm/ihr zu sagen, wie er/sie sich gottgefällig und damit menschenfreundlich und gemeinschaftsdienlich verhält.

Allerdings hat vor 100 Jahren ein entscheidender Paradigmenwechsel stattgefunden, wie Recht und Gesetz in der katholischen Kirche dargestellt und wie es zugänglich gemacht wird: Statt die Gesetze wie bisher in ein Rechtsbuch zusammenzustellen, werden sie ab sofort im Stile der Kodifikation systematisch bearbeitet und als Gesetzbuch amtlich veröffentlicht. Das Besondere und Neue der Kodifikation liegt vor allem in zwei Aspekten: Die Rechtsmaterie wird erstens nicht mehr wie bisher mithilfe von konkreten Rechtsfällen dargestellt, sondern in eine abstrakte Sprache gefasst und dadurch inhaltlich verdichtet. Zweitens wird die Rechtsmaterie nicht mehr nur gesammelt und nach logischen Gesichtspunkten geordnet, sondern nach zweckorientierten Prinzipien gestaltet und so in ein einheitliches und widerspruchsfreies Rechtssystem gebracht. Auf diese Weise werden zum einen aus konkreten Rechtsfällen abstrakte Gesetzesvorschriften, die nicht mehr unmittelbar anwendbares Recht sind. Und zum anderen werden alle Einzelregelungen, die ursprünglich für sich stehen, in eine Gesamtordnung des Rechtsstoffes eingefügt.

Warum mitten im Ersten Weltkrieg?

Natürlich kann man sich die Frage stellen, warum die katholische Kirche diesen Paradigmenwechsel gerade vor 100 Jahren vornehmen musste, also mitten im Ersten Weltkrieg. Hatte sie damals keine anderen Sorgen und Probleme? Zweifelsohne hatte sie diese. Und man muss wissen, dass das kirchliche Gesetzbuch 1917 fertiggestellt war, die Idee dazu und die ersten Arbeiten aber bis ins Jahr 1864 zurückgehen, also bis in die Zeit im Vorfeld des I. Vatikanischen Konzils (1870). Denn bereits zu dieser Zeit wurde allseits immer wieder darüber geklagt, dass das kirchliche Recht in seinem Normenbestand unübersichtlich geworden sei, dass es ein Durcheinander veralteter, längst außer Kraft getretener und neuer Gesetzesnormen gebe. Auch von einem dschungelhaften Zustand des Rechts war dabei die Rede, vom Erdrücktwerden durch die Gesetze und davon, dass man mit der Fülle des überlieferten Rechtsstoffes mehrere Kamele beladen könne. Das war für die Rechtskultur ein unhaltbarer Zustand!

Dass der CIC mit einer über 50-jährigen Bearbeitungszeit dann gerade 1917 -also mitten im Ersten Weltkrieg -in Kraft gesetzt wurde, sollte die Stärke und Beständigkeit der Kirche und ihrer Sendung inmitten der ruhelosen Kämpfe dieser Welt demonstrieren. Auch die Gunst der Stunde sollte genutzt werden, dass staatlicherseits aufgrund der Kriegswirren mit keinen Widerständen zu rechnen war.

Keine Paralleljustiz zu weltlichem Recht

Seit jeher hat die katholische Kirche für sich in Anspruch genommen, dass sie in bestimmten Bereichen eine eigene Rechtsordnung hat. Damit will sie ihrem Selbstverständnis Rechnung tragen, nicht nur eine Gemeinschaft von Menschen, sondern eine von Gott gegründete und auf Gott hin ausgerichtete Gemeinschaft von Menschen zu sein. Dieses Selbstverständnis ist die Basis dafür, dass es der katholischen Kirche um mehr geht als um das, worum es jeder Rechtsordnung geht: nämlich Frieden und Freiheit in einer Gemeinschaft sicherzustellen. Freilich geht es auch der katholischen Kirche um Frieden und Freiheit. Aber mehr noch geht es ihr um die Beziehung des Menschen zu Gott, also um seine geistliche Freiheit und damit um sein geistliches Wohl. Und deshalb gibt es in der Rechtsordnung der katholischen Kirche auch Bestimmungen, die auf die Gesinnung und die innere Einstellung der Kirchenglieder Bezug nehmen, zum Beispiel wann und wie der/die Einzelne die Sakramente zu empfangen, den Gottesdienst zu feiern oder sich um ein heiliges Leben zu bemühen hat. Solche Regelungen sind in einer weltlichen Rechtsordnung undenkbar. Auf den Punkt gebracht: Bei der Rechtsordnung der katholischen Kirche geht es nie nur um eine Gemeinschaftsordnung -das auch -, sondern immer auch darum, dass die kirchliche Heilssendung verwirklicht wird. Ziel der kirchlichen Rechtsordnung ist keineswegs, eine Paralleljustiz zur weltlichen Rechtsordnung zu schaffen. Sie will vielmehr eine dazu ergänzende Rechtsordnung für jene Sachverhalte sein, die eine weltliche Rechtsordnung nicht regeln kann und nicht regeln darf, will sie ihre weltanschauliche Neutralität nicht verlieren. Beispiele dafür sind zum Beispiel die Regelungen über den Sakramentenempfang, die Verkündigung der Glaubenslehre oder die Besetzung von kirchlichen Ämtern.

Natürlich gilt auch für die kirchliche Rechtsordnung wie für jede Rechtsordnung, dass ihre Regelungen nicht in Stein gemeißelt, sondern immer wieder auf ihre Reformbedürftigkeit hin zu überprüfen sind. Dabei ist allerdings zu beachten, dass rechtliche Reformen meistens sehr vielschichtige Prozesse sind. Sie entstehen selten von jetzt auf gleich und werden höchst selten von einer Person allein bestimmt -zum Glück. Den Ausgangspunkt von Reformen bildet meistens eine Überzeugung, die gegen den Mainstream ist und sich nicht mit dem Bestehenden deckt. Heißt: Irgendwann fängt eine Person an, diese Überzeugung zu leben, kann in einem nächsten Schritt weitere Personen dafür gewinnen, diese Überzeugung ebenfalls zu praktizieren, und irgendwann kommt der Gesetzgeber ins Spiel, der diese gelebte Reform als gemeinschaftsdienlich einschätzt und entsprechend gesetzlich neu regelt oder sie als gemeinschaftsschädlich beurteilt und gesetzlich verbietet. Am Ende eines Reformprozesses bestimmt also der höchste Gesetzgeber, in der Kirche ist das der Papst, was und wie reformiert wird.

Er hat die Letztverantwortung. Aber Letztverantwortung heißt nicht einfach Alleinverantwortung. Denn Gesetze -neue wie reformierte -werden zwar von oben erlassen, aber müssen von unten, also von der Gemeinschaft gelebt werden -in der Rechtssprache spricht man hier davon, dass die Gesetze rezipiert werden müssen. Das hat zur Folge: Ein Gesetz, das nicht rezipiert wird, entfaltet keine Gestaltungskraft, ist dann letztendlich so, als wenn es nicht existieren würde. Solche Gesetze, die nicht rezipiert werden, werden dann meistens nach einer gewissen Zeit reformiert oder ganz abgeschafft. Bekannteste Beispiele dafür sind die Reformen im Eherecht, vor allem hinsichtlich der bekenntnisverschiedenen Ehe, in der Ökumene und auch in der Frauenfrage.

Für ein besseres Recht eintreten

Die Rechtsgemeinschaft und jedes einzelne Mitglied in ihr kann also durch ihre bzw. seine Art, mit bestehenden Gesetzen umzugehen, zu Reformen beitragen. Deshalb sollte jede Katholikin und jeder Katholik das geltende Recht seiner/ihrer Kirche so gut wie möglich kennen bzw. kennenlernen, seine Stärken, aber auch seine Schwächen in Blick nehmen und wo nötig, für ein besseres Recht der christlichen Freiheitsordnung für alle eintreten. Dazu ist die kirchliche Rechtsordnung immer wieder und stets von Neuem mit den Fragen zu konfrontieren: Wo sind die legitimen Freiheitsräume in der Kirche, also Räume, in denen sich das Wirken des Heiligen Geistes in uns, in Männern und Frauen gleichermaßen, entfalten kann? Sind diese Räume in der Kirche wirklich hinreichend bekannt? Werden sie tatsächlich auch von den einen in Anspruch genommen und von den anderen gewährt? Und wenn nicht, warum? Müssen sie zum Wohle der ganzen Kirche und ihres Auftrages weiter ausgebaut werden? Wie kann das geschehen? Welchen Beitrag können die einzelnen Glieder dazu leisten? Welchen Beitrag müssen die Männer, welchen die Frauen dazu leisten? Und was müssen die kirchlichen Gesetzgeber dazu tun?

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