Leidenschaft und Repression

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Die Tunesierin Leyla Bouzid erzählt in ihrem Spielfilmdebüt "Kaum öffne ich die Augen" mitreißend von jugendlichem Aufbegehren, aber auch vom langen Arm der Diktatur.

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Die Tunesierin Leyla Bouzid erzählt in ihrem Spielfilmdebüt "Kaum öffne ich die Augen" mitreißend von jugendlichem Aufbegehren, aber auch vom langen Arm der Diktatur.

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Im Sommer 2010 ist in Tunis vom Arabischen Frühling noch nichts zu spüren. Das Konterfei des autoritären Präsidenten Ben Ali hängt noch an Straßenmauern und in Amtsstuben, Bestechung ist an der Tagesordnung und ohne Parteimitgliedschaft geht gar nichts. Die 18-jährige Farah setzt ihre Stimme aber schon als Waffe ein. Auf Wunsch der Eltern soll sie zwar Medizin studieren -und stolz ist die Familie auf die junge Frau, freut sich schon auf den ersten Doktor aus ihren Reihen -, doch Farah hat ganz andere Pläne.

Songs mit Sprengkraft

Ihre Liebe gehört nämlich der Musik und ihrem Bandmitglied Borhène. Sie will leben und lieben, lackiert Finger-und Zehennägel leuchtend rot, fällt mit ihrer Lockenpracht auf und eckt an, indem sie in Männerbars geht und dort nicht nur singt, sondern auch Bier trinkt. Die ganze Leidenschaft der von Baya Medhaffar intensiv gespielten Farah wird aber vor allem in den Songs ihrer Band spürbar, in denen sich traditionelle maghrebinische Klänge mit Rockmusik mischen. Massiv üben die jungen Erwachsenen darin Kritik an den Missständen der tunesischen Gesellschaft, und nicht nur im titelgebenden Lied "Kaum öffne ich die Augen" werfen sie einen schonungslosen Blick auf die Lage der Menschen in Tunesien.

Die kräftigen Farben, die agile Kamera und der dynamische Schnitt übertragen die Leidenschaft, die Rebellion und die Lebenslust Farahs, aber auch einen heftigen und dramatischen Konflikt mit der Mutter direkt auf den Zuschauer. Kongenial verstärkt die Form die Aussage dieses kraftvollen und vibrierenden Films, in dem das Engagement der Protagonistin mit dem der gerade 32-jährigen Regisseurin in eins fällt.

Doch prägnant deckt Bouzid auch auf, wie eingeschränkt Farahs Freiheit letztlich ist. Nur heimlich kann sie sich mit ihrem Freund treffen, Videomitschnitte der Auftritte ihrer Band werden an die Geheimpolizei übermittelt und auch ihre Mutter stellt sich bald gegen sie.

Die Botschaft ist klar und doch ist dies kein didaktischer Problemfilm, sondern in erster Linie -auch dank der phänomenalen Hauptdarstellerin -ein mitreißendes Kinostück. Hier wird nicht aufgesetzt doziert, sondern aus der mit Herzblut erzählten, sehr konkreten Geschichte heraus entwickelt sich die Stoßrichtung.

Quälend langes Verhör

Keine Schwarzweißmalerei betreibt Bouzid, zeichnet auch die Mutter vielschichtig, als eine, die einst Farah durchaus ähnlich war, ihre Rebellion verstehen kann, aber aufgrund der Kenntnis der Macht der Geheimpolizei Farahs Freiheiten einschränkt. Dass diese Ängste durchaus begründet sind, wird deutlich, als Farah verschwindet.

An erzählerischem Schwung mag dieses Debüt mit der Verschleppung verlieren, macht dann aber eindrücklich die Brutalität des Regimes sichtbar, wenn in einer quälend langen Einstellung das Verhör geschildert wird, in dem Farah nicht nur befragt, sondern auch betatscht und begrapscht wird. Eindringlich vermittelt Bouzid hier, wie (junge) Menschen gebrochen werden. Dennoch endet "Kaum öffne ich die Augen" nicht hoffnungslos, sondern wenigstens auf der privaten Ebene sanft optimistisch.

Kaum öffne ich die Augen (A peine j'ouvre les yeux) F/TUN 2015. Regie: Leyla Bouzid. Mit Baya Medhaffar, Ghalia Benali, Montassar Ayari, Lassaad Jamoussi. Polyfilm. 102 Min.

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