Leidenschaftliches Sozialdrama

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Nicht im biblischen Kapharnaum, sondern in Beirut spielt Nadine Labakis in Cannes mehrfach preisgekrönter dritter Spielfilm. Bezeichnet wird mit dem hebräischen Wort "Capharnaum" ein Ort voller Chaos und Durcheinander. So stellt sich die Welt für den etwa zwölfjährigen Zain (Zain Al Rafeea) dar, der wegen eines Gewaltverbrechens, in das Labaki erst spät Einblick gewährt, zu fünf Jahren Haft verurteilt wurde. Wieder steht er vor Gericht, ist nun aber der Kläger, während auf der Anklagebank seine Eltern sitzen, denen er vorwirft, dass sie ihn in die Welt gesetzt haben.

Grotesk wirkt dieser Vorwurf zunächst, doch die folgenden Rückblenden zeichnen ein erschütterndes Bild von Zains Leben: Mit zahlreichen Geschwistern - wie viele es genau sind, weiß er nicht - schläft er in einem engen Raum, tagsüber muss er für einen Händler Gas-und Wasserflaschen schleppen, um zum Lebensunterhalt beizutragen. Fürsorglich kümmert er sich um seine elfjährige Schwester, doch als er nicht verhindern kann, dass sie von den Eltern verheiratet wird, haut er ab und streift auf der Suche nach Arbeit durch die Straßen von Beirut. Erstmals findet er dabei aber auch Geborgenheit bei einer illegal im Libanon lebenden Äthiopierin, für deren Baby er sorgt, während sie arbeitet, doch nur kurz währt dieser Moment der Ruhe. An Meisterwerke des italienischen Neorealismus wie Vittorio de Sicas "Schuhputzer" erinnert "Capernaum -Stadt der Hoffnung" ebenso wie an Sean Bakers "The Florida Project". Ganz aus Zains Perspektive erzählt die 44-jährige Libanesin, die beim Prozess auch selbst dessen Anwältin spielt. Sie ist immer auf Augenhöhe des Jungen und versetzt den Zuschauer mit beweglicher Kamera und genauem Blick für Details in dessen Welt. Sechs Monate hat Labaki in den Armenvierteln gedreht und hatte am Ende 520 Stunden Material, aber nichts wirkt hier gekünstelt oder gestellt.

Die größte Stärke dieses bewegenden Sozialdramas, das auch den unbändigen Überlebenswillen seines kleinen Protagonisten feiert, sind aber zweifellos die Laiendarsteller. Natürlich und mit großer Leidenschaft spielen vor allem die Kinder, deren Rollen sich teilweise an ihrem eigenen Schicksal orientieren. Voll Empathie blickt Labaki auf sie, ergreift leidenschaftlich Partei, gibt den Schwachen mit ihrem Film eine Stimme und klagt mit aller Schärfe die Erwachsenen an, die sich nicht um die Kinder kümmern (können), sondern rücksichtslos ausbeuten.

Capernaum -Stadt der Hoffnung (Capharnaüm) LBN/F/US 2018. Regie: Nadine Labaki. Mit Zain Al Rafeea, Yordanos Shiferaw. Thimfilm. 121 Min.

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