Lemberg - auch das ist Europa

19451960198020002020

Streifzug durch die einstige k. u. k. Metropole in der Ukraine

19451960198020002020

Streifzug durch die einstige k. u. k. Metropole in der Ukraine

Werbung
Werbung
Werbung

Wer heute als Österreicher nach Lwiw kommt, begegnet nicht nur in der Altstadt einem der schönsten Plätze Europas, dem sichtbaren Erbe der einstigen k. u. k Metropole Lemberg, sondern ebenso einem neuen kulturpolitischen ukrainischen Selbstbewusstsein mit einer großen Sehnsucht danach, in seiner Brückenfunktion zwischen Ost und West von Europa wahr- und ernstgenommen zu werden.

In einer stillen Seitengasse, in einem Mietshaus aus der Gründerzeit, besuchen wir den 97jährigen Doyen des Lemberger Musiklebens, den Dirigenten, Volksliedforscher und Komponisten Mykola Kolessa. Vom kleinen Balkon bröckelt der Putz, im Stiegenhaus nackte Glühbirnen an frei hängenden Leitungen, eher die Regel als die Ausnahme im Innern der Häuser. Der Maestro, wie ihn seine Schüler liebevoll nennen, spricht Deutsch. Mit seinem Vater, der in Wien bei Anton Bruckner Harmonielehre studiert hat und mit Bela Bartok befreundet war, ist er als junger Komponist mit dem Fahrrad durch die Karpaten gefahren und hat die Musik der Huzulen, jener ukrainischen Volksgruppe von Hirten und Flößern, aufgezeichnet. Von seinen eigenen Kompositionen möchte er uns die 2. Symphonie auf Schallplatte vorspielen. Doch der Plattenspieler ist nicht dazu zu bewegen. Im Gespräch, wie in sovielen Gesprächen in Lemberg, immer wieder dieser fast beschwörende Satz: "Schauen Sie, wir gehören doch zu Europa! Nicht zu Asien!" Ist das die Angst, die Ukraine könnte sich alleine wirtschaftlich nicht behaupten, könnte den ersehnten Anschluss an Europa nicht finden, müsste sich - der Not gehorchend - wieder an Russland anschließen? "Mozart! Das ist für mich der Größte! Und seinen Sohn, Franz Xaver, habe ich dirigiert! Sie wissen ja ..." Natürlich, wir wissen, dass Franz Xaver Mozart, geboren im Todesjahr des Vaters und von der ehrgeizigen Konstanze alsbald Wolfgang Amadeus genannt, sich vor dem übermächtigen Schatten des Vaters nach Lemberg gerettet, adelige Fräulein unterrichtet, den Cäcilienverein gegründet - und, hier in und um Lemberg fast 30 Jahre seines Lebens zugebracht und sehr schöne und traurige Musik geschrieben hat.

Dem, was W.A. Mozart-Sohn nach Hause schrieb, als er 1808 siebzehnjährig in Lemberg angekommen war - die ersten Stunden, die man in einer fremden Stadt zubringt, haben immer etwas sehr Trauriges -, kann der heutige Besucher nicht beipflichten, wenn er zum ersten Mal fast verzückt durch die Kastanienalleen, durch die Straßen und Gassen geht und rund um den berühmten Rynok, den Ring- oder Marktplatz mit dem südlichen Charme, die Fassaden der Kirchen und der Bürgerhäuser aus sieben Jahrhunderten bewundert.

Es ist eine große Herausforderung an die Stadtverwaltung, diese architektonischen Schätze vor dem Verfall zu retten, denn die Auswirkungen von fast einem halben Jahrhundert traditionsverachtender Sowjetdiktatur haben an diesen Zeugnissen von Urbanität, Kultur und Religion ebenso ihre Spuren der Zerstörung hinterlassen, wie in der Mentalität der Menschen. So gut es eben die wirtschaftliche Labilität des Landes, der Stadt und der - leider untereinander heillos zerstrittenen - christlichen Religionsgemeinschaften zulassen, werden bedrohte Objekte der Altstadt, seit 1998 von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärt, saniert - ohne ideelle und materielle Hilfe Europas allerdings ein schier unmögliches Unterfangen.

Heute leben in der ehemaligen Vielvölkerstadt mit inzwischen fast einer Million Einwohnern und einer so wechselvollen Geschichte, dass sie nicht ohne Bromide gelesen werden kann, wie der Schriftsteller Vynnychenko feststellte, rund 85 Prozent Ukrainer, zehn Prozent Russen und eine kleine Minderheit Polen. Verschwindend die Zahl der vier- oder fünftausend Juden in dieser Stadt, die einst der größten Jüdischen Gemeinde der Donaumonarchie Heimat war, 1939 lebten hier noch 160.000 Juden; von ihren zwölf Synagogen stehen noch zwei, die heute wieder das kulturelle, religiöse und soziale Leben des verbliebenen Rests bestimmen. Von der "Goldenen Rose", der ehemals schönsten Synagoge Osteuropas, steht als stummes, vergessenes Mahnmal eine Wand.

Perspektivlose Jugend Die Beziehungen zwischen Österreich und dem heutigen Lviv, der alten Leopolis der Monarchie (semper fidelis!), wären sehr gut, meint Taras Wosnjak, der Leiter der Abteilung für internationale Beziehungen, ja auf kulturellem Gebiet geradezu mustergültig! Denn so etwas wie das "Österreichisch-ukrainische Kooperationsbüro für Wissenschaft, Bildung und Kultur", mit einer Österreich-Bibliothek in der Akademie der Wissenschaften und vielen anderen Austauschprojekten, das hätte nur Österreich. "Wir wünschen uns", sagt Taras Wosnjak, "dass unsere Studenten bei Ihnen studieren! Und dann zurückkommen, denn hier gibt es unendlich viel zu tun!"

Sorgen bereitet dem kultursoziologisch ambitionierten Kommunalpolitiker die Mentalität eines großen Teils der Jugend, als Folge von Arbeits- und Perspektivenlosigkeit. "Dazu eine Amerikanisierung", meint Wosnjak, "gemischt mit der Ignoranz des homo sowjeticus, besonders in der Ostukraine, das kann gefährlich und explosiv werden!"

Vielen intellektuellen und politisch bewussten Menschen in Lemberg ist die Haltung des Westens in Hinblick auf einen EU-Beitritt zu zögerlich, zu sehr von einer westeuropäisch geprägten Arroganz bestimmt. Und die Ukraine fühlt sich "von oben herab, auf einem niederen Status, angesehen, als ein völlig unbekanntes Land, vor allem auch, was unsere kulturelle Identität betrifft!" Und immer wieder wird die Schlüsselstellung zwischen Ost und West angesprochen, immer aber mit dem Zusatz: "Aber wir gehören zu Europa!"

Bitter und wehmütig Wer heute nach Lemberg kommt, erlebt ein Wechselbad der Gefühle. Auf der einen Seite die Schönheit und Gastfreundschaft dieser Stadt, mit den alten Baudenkmälern und den neuen, privaten Restaurants und Hotels, den kleinen Konditoreien, die einen Aufenthalt anregend und angenehm machen. Aber er erlebt auch die Armut und die großteils schlechten Wohnbedingungen, die trostlosen Höfe hinter den kunst- und geschichtsträchtigen Fassaden. Und er bewundert die Überlebensstrategien vieler Menschen, etwa der Arbeiter bei den Sanierungsarbeiten eines der schönsten Häuser am Ringplatz, des Palazzo Bandinelli, das gerade auf Initiative der "Bewunderer Lembergs", einer Architekten- und Restauratorengruppe, knapp vor dem Einsturz gerettet wird. Seit Oktober des Vorjahres hatten sie keine Lohn mehr bekommen, einfach, weil kein Geld mehr da war. Aber sie arbeiten weiter. Und auf die Frage, wovon man denn ohne Lohn leben könnte, ein Achselzucken. "Wir leben nicht, wir überleben, irgendwie geht es schon - irgendwo pflanzt man halt etwas Gemüse - und so."

Mit einem bitteren und wehmütigen Beigeschmack geht man weiter und tröstet sich in den von den Religionsgemeinschaften nach erstrittener Rückgabe meist ganz passabel restaurierten Gotteshäusern, in der ukrainisch-orthodoxen Mariä Himmelfahrtskirche, in der Parasceve-Kirche mit der fünfstöckigen goldschimmernden Ikonostase, einer der schönsten in der Ukraine, in der unierten Dominikanerkirche, die vor der Wende noch ein Museum des Atheismus gewesen war und heute der Herrschaft der achtzehn Heiligen wiedergegeben ist, die in der lichtdurchfluteten barocken Kuppel schweben ... und natürlich im Rokoko-Wunder der griechisch-katholischen St. Georgs-Kathedrale. Man tröstet sich wie offenbar viele Menschen Sonntag für Sonntag in den überfüllten Kirchen (von den massiven Aktivitäten zahlreicher Sekten ganz zu schweigen) und hofft, dass die täglichen kleinen Wunder des Überlebens auch weiterhin geschehen.

Lemberg - nein: Lwiw! - denkt man beim Abschied, ist nicht nur eine Reise, sondern allen Respekt, Sympathie und partnerschaftliche Unterstützung wert, nicht nur weil es ein Herzstück Europas war - und wieder sein könnte.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung