Leonardos Notizbuch und Beuys als Ausgleich

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Leonardo da Vincis Codex Leicester in München, zusammen mit Werken von Joseph Beuys.

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Leonardo da Vincis Codex Leicester in München, zusammen mit Werken von Joseph Beuys.

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Mit der Farbe der Luft hat Leonardo da Vinci sich wiederholt intensiv beschäftigt. Seine Beobachtung, daß weißer Rauch vor einem schwarzen Hintergrund blau, vor einem weißen jedoch grau erscheine, führt ihn zu malerischen Experimenten, wie "schönes Blau" zu erreichen sei: durch Verwendung von Schwarz und einer "dünnen, durchsichtigen Schicht Bleiweiß", und er betont nochmals, die Schicht müsse dünn sein und die Farbe fein gemahlen.

Entsprechend seiner Auffassung, daß das Auge "Fenster der Seele" und Hauptorgan sei, "durch das der menschliche Verstand den vielseitigsten und herrlichsten Einblick in die unendlichen Werke der Natur gewinnt" (Paragone), setzt Leonardo im Rangstreit der Sinne das Auge vor das Ohr, die eigene Anschauung vor die Übernahme des Gehörten. Sein Hinterfragen, Beobachten, Schlußfolgern geht weit über Aspekte hinaus, die sein künstlerisches Schaffen unmittelbar berühren.

Die Gedankenwelt des Renaissancemenschen Leonardo schließt den gesamten Kosmos ein von der Beschaffenheit und Konstellation der Gestirne bis zur Oberflächenspannung eines Wassertropfens, berührt Fragen über die Größe von Sonne und Mond und deren Licht, über das Wachstum der Erde, ihre Schwerkraft und Verteilung von Wasser und Land. Er erläutert die Bewegungen der Steine im Wasser, das Strömungsverhalten von Wellen und Wind, von Ebbe und Flut, bezieht sich auf den Bau widerstandsfähiger Dämme und spricht von jenem Gerät, das erlaubt unter Wasser zu fahren, das er jedoch "wegen der Schlechtigkeit der Menschen" nicht einmal seinem Merk- und Notizbuch anvertrauen möchte.

Der Codex Leicester, entstanden in den Jahren 1506 bis 1510, beinhaltet diese überaus reiche Stoffsammlung zu einem geplanten, aber nie ausgeführten Buch. Seit 1994 im Besitz von Microsoft-Chef Bill Gates, ist das einzige in Privathand befindliche Manuskript des Künstlers seit fünf Jahren auf Tournee durch die USA und Europa und erstmalig nun auch in Deutschland zu sehen. Im Ambiente einer blaudämmrigen Schatzkammer zeigt das Haus der Kunst in München jedes einzelne der 18 gelblichen Blätter zwischen zwei Glasplatten stehend bei minimaler Beleuchtung. Beidseitig dicht mit brauner Tinte beschrieben, in der für den Linkshänder Leonardo typischen Spiegelschrift, vermitteln die Seiten den Eindruck sorgfältiger, zuweilen spontaner Niederschrift, hier und da mit Streichungen, auch Randbemerkungen und Hinzufügungen.

Der Beigeschmack von Publicity Eine Vielzahl erläuternder Zeichnungen begleiten den Text. Planetenformen und -bahnen lassen auf astronomische Themen schließen, aber schon die Skizzen zu Strömungsformen von Luft und Wasser sind zu Chiffren abstrahiert. Über das Faszinosum des Originals hinaus entzieht sich das Werk weitestgehend dem Verständnis des Betrachters. Rechtfertigt dies die wiederholte Präsentation dieser kostbaren Handschrift, um ein "Weltweites Publikum an Leonardos Genie teilhaben zu lassen"? Der Beigeschmack von Publicity stellt sich ein, wenn die prominenten Sponsoren Microsoft und Daimler-Chrysler in der "Zusammenballung von Geld, Geist und Macht eine Zeugungsstätte neuen Geistes" erkennen. Verantwortungsbewußter wäre die Gegenüberstellung von Faksimile und Übertragung, wie dies der ausgezeichnete Katalog vorführt und im Vorspann der Ausstellung am Bildschirm möglich ist.

Erst mit der Lesbarkeit der Texte erschließt sich Leonardos unerschöpflicher Wissensdurst, seine Bereitschaft, genau hinzusehen, und seine Fähigkeit, seine Beobachtungen und Gedanken in literarisch äußerst lebendige Formen zu gießen.

Zu Leonardo da Vinci fand Joseph Beuys einen starken Bezug, der jedoch, anders als der Meister, durch das Interesse an der Natur zur Kunst fand. In rund 100 Zeichnungen aus den Jahren 1974/75 tritt Beuys in einen inneren Dialog mit dem großen Vorgänger, indem er sich auf dessen 1965 in Madrid wiederentdeckte "Codices Madrid" bezieht.

Die Münchner Ausstellung zeigt als Kontrapost und auch als Gegenwartsbezug den in sich geschlossenen Werkkomplex der sogenannten "Codices Madrid-Zeichnungen" (Dia Center of the Arts, New York). Beuys, der sich an keiner Stelle direkt auf Leonardo bezieht, stellt die Morphologie in den Mittelpunkt seiner Zeichnungen. Ihre Deutungen setzt ein intensives Sich-Einlassen des Betrachters voraus. Leonardo und Beuys gemeinsam ist eine ganzheitliche Sicht, die in den Fragen um Wachstum, Bewegung und Energieflüssen ihr zentrales Thema findet. Wo es Beuys im Kern um die Vermittlung seiner "Sozialen Plastik" geht, verbindet er Zeichnung und Text.

In der Gleichsetzung von Kunst - Mensch - Kreativität - Wissenschaft findet Beuys in Leonardo einen Geistesverwandten, der, wie er selbst, die Kunst und den Begriff des Künstlers revolutioniert hat.

Bis 9. Jänner 2000. München, Haus der Kunst,Prinzregentenstr. 1, 30. Jänner bis 12. März 2000. Berlin, Museum der Dinge,Martin-Gropius-Bau.

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