Lesen lernen - eine Initiation

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400 Kamele trugen, wohl abgerichtet in alphabetischer Ordnung wandelnd, dem Wesir seine Bibliothek von 117.000 Werken nach.

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400 Kamele trugen, wohl abgerichtet in alphabetischer Ordnung wandelnd, dem Wesir seine Bibliothek von 117.000 Werken nach.

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Lesen ist wie Denken" heißt es in der "Geschichte des Lesens". Alberto Manguel wollte zu diesem Thema nur einen bescheidenen Essay beitragen. In sieben Jahren ist ihm daraus ein dickes Buch geworden. Der Mut hat sich gelohnt. Lesend über das Lesen, findet man sich sofort selbst in der Geschichte: An die eigene Geburt als Leser erinnert sich jeder, Lesenlernen ist eine Initiation. Manguel berichtet davon als der "plötzlichen Entdeckung eines neuen Sinnesorgans". Geboren 1948 in Buenos Aires, war er zeitlebens Leser, Autor, Lektor, homme de lettres in mehreren Kulturen, auch der deutschsprachigen. Die zweite Initiation erfuhr er in der Schulzeit als Vorleser für den blinden Jorge Luis Borges: "Mich fesselten weniger die Texte, die ich durch ihn entdeckte, als seine Kommentare, die höchst hellsichtig waren ... manchmal grausam, fast immer unentbehrlich."

Das Lesen als Sehen mit dem Auge folgt der Geschichte der Optik. Das Mittelalter hatte eine ganz andere: "Blickstrahlen" gingen vom Auge aus, bildeten den Sehkegel, der den Gegenstand wie ein Scanner abtastete, das Auge inhalierte. Lesen war ein physikalisch aktiver Vorgang, die Buchstaben wurden eingesogen. Die Metapher "mit den Augen verschlingen" war noch Original.

Das stille Lesen: In der Antike war das laute Lesen und Schreiben üblich. "Drei Finger schreiben, zwei Augen lesen, eine Zunge spricht, der ganze Körper arbeitet" notiert stöhnend ein Anonymus. Erst gegen Ende des 10. Jahrhunderts verbreitet sich in Bibliotheken und Schreibstuben das stille Lesen. Beim Lautlesen gliederte das gesprochene Wort die Textschlange. Für den stillen Leser mußten Wortabstände, Großbuchstaben, Initialen, Interpunktion und Layout erfunden werden. Rubrik kommt von ruber, unterteilenden Kopfzeilen, mit roter Tinte geschrieben.

Ein anderer Längsschnitt folgt der Gestalt des Buchs: Tontafel, Papyrus, Pergament, Papier. Dazu Tontafelkiste, Schriftrolle, Kodex. Lagerungssysteme wurden nötig. Die Geschichte der Bibliothek, der Klassifizierungen und Ordnungsprinzipien begann, das alphabetische ist nur eines. Ein persischer Wesir ließ sich auf Reisen seine Bibliothek von 117.000 Werken von 400 Kamelen nachtragen, "die abgerichtet waren, in alphabetischer Reihenfolge zu wandeln".

Ein Kapitel gilt der Methodik des Lesenlernens. Sie wird am Beispiel von Schlettstadt im Elsaß verfolgt - von der scholastischen Methode mit ihrem strengen Schema, "die Kommentare der Autoritäten wiederzugeben und zu vergleichen", zu den Humanisten, die das individuelle Verständnis weckten, zum modernen, verantwortlichen Leser.

Bücherverbrennung gab es schon zur Zeit des Sokrates. Goethe berichtet angewidert von einer. Später, als Minister, war er selber Zensor. Zensur - ein finsteres Kapitel: Den Index Librorum Prohibitorum gab es von 1559 bis 1966! Auch andrer Unfug hat Tradition, etwa die Textfälschung, auf Papier oder in Stein, wenn Herrscher mit frisierten Daten rückwirkend Geschichte machen wollten.

Eine subtile Betrachtung gilt dem Ort des Lesens. Gelesen wird überall, im Stehen, Sitzen, Liegen, einsam oder im Trubel, am stillen Örtchen (dies verbindet den heiligen Gregor, Henry Miller und Proust) oder im Bett. Der rechte Ort kann mit dem Handlungsort harmonieren (Petrarca lesen auf dem Mont Ventoux) oder kontrastieren (irische Legenden lesen im heißen Indien), es geht allein oder in Gesellschaft (Colette konnte nur mit ihrer Katze lesen). Manguel kann sich sympathisch in Verästelungen verlieren: vom Bett als Leseort kommt er zu antiken Bettgestellen, von Europa nach China und zurück zum Empfang im Bett bei Louis XIV.

Lesen, was ist das? Diese Grundfrage steht hinter allen geschichtlichen Exkursionen. Manguel meidet die Verführungen der Neurolinguistik und Kommunikationstheorie. Ihn fasziniert das Zeitlose hinter dem Geschichtlichen.

Unter allen Lesern ist der Übersetzer wohl der Aufmerksamste: "Die Übersetzung ist die intensivste Form des Verstehens." Manguel spürt dem bei Rilke nach, wenn dieser Gedichte von Louise Labe aus dem 16. Jahrhundert übersetzt. Rilke ist dabei "in mehrere Lesevorgänge zugleich verwickelt". Er liest die fremde Sprache, die Vergangenheit der Dichterin und seinen eigenen Lebenstext. Übersetzen wird Vorbild für Lesen allgemein. Es verzerrt zwar die Vorlage unweigerlich, indem es ihr etwas zufügt oder nimmt. Aber "die Übersetzung eröffnet eine Art Parallel-Universum, ein anderes Raum-Zeit-Kontinuum, in dem der Text eine neue Vielzahl möglicher Bedeutungen freigibt". Analog wäre genaues Lesen als Übersetzen aus der Autorsprache in die des Lesers zu verstehen.

Wie weit geht des Lesers Freiheit, sich seine Lesart zu wählen? Manguel sieht die Grenzen nur durch "die Konventionen der Grammatik und durch die Vernunft" gesetzt, dazwischen gibt es "eine nicht endende Kette von Deutungen". Die illustriert er am babylonischen Talmud, dessen Traktaten immer die erste Seite fehle: "Wie viele Seiten ein tüchtiger Mann auch immer gelesen hat, er soll nie vergessen, daß er noch nicht zur ersten Seite gelangt ist" - der mit dem Titel oder Resümee. Der Autor ist ja selbst nur der Vorderste in der nicht endenden Ahnenkette von Lesern, er erbt und gibt das Erbe angereichert weiter. Autorschaft ist Vaterschaft, Leserschaft intim-verschränkte Liebe zu den Vätern. Die Leser vollziehen eine mystische Vereinigung mit dem Geschriebenen: "Wir sind, was wir lesen."

Manguel sieht ein eucharistisches Verhältnis zwischen Autor und Leser: "Das Buch ist Fleisch und Blut des Dichters, das durch die literarische Transsubstantiation zu dem des Lesers wird." Über solche Metaphern hinaus hat Lesen seine theologische Dimension. Lesen ist auch Lesen von Spuren, Zeichen, Lesen im Buch der Natur, das von Gott geschrieben ist. Schreiben ist fortwährender Schöpfungsakt, Lesen nachschaffende Mitwirkung, "die die Schöpfung erst zum Sprechen bringt". Die alten Mesopotamier hielten die Vögel für heilig, weil ihre Fußspuren aussahen wie Keilschrift, und stellten sich vor, daß sie die Gedanken der Götter lesen könnten, wenn es ihnen gelänge, "die wirren Zeichen der Vögel zu entziffern." Die Buchreligionen entwickelten schließlich "eine tiefe symbolische Verbundenheit mit ihren heiligen Büchern, die nicht Symbole des Gottesworts, sondern Gotteswort selber waren."

Ein Index von 1.600 Namen und ein dicker Anhang helfen, sich in diesem Werk zurechtzufinden, dessen Autor mit seinem Wissen nie protzt und nach seinen kunstvollen Saltos immer elegant zu Boden kommt. Ein Lob der guten Übersetzung.

0EINE GESCHICHTE DES LESENS Von Alberto Manguel Aus dem Englischen von Chris Hirte Verlag Volk und Welt, Berlin 1998 430 Seiten, viele Abbildungen, Ln., öS 423.

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