Lesen und leben lernen

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Die lebensnotwendige Faszination der Lektüre-Welten. Aus dem neuen Buch von Cornelius Hell.

Seit ich denken kann, gehört das Lesen zu meinem Leben. Das erste Aufschlagen eines Buches, sein Geruch und die Faszination der ersten Zeilen - das sind noch immer lichte Momente meiner Kindheit. Viele andere Faszinationen gab es ja nicht: Zum Sport taugte ich als Kind nicht, für das Indianerspielen war ich auch zu ungeschickt, und überhaupt war es nicht allzu lustig, Außenseiter zu sein in der kleinen Welt eines Dorfes. So hat es mich in die Ersatzwelt der Bücher verschlagen. Kinder- und Märchenbücher, später Karl May und dann Western- und Jerry Cotton-Hefte waren es, die ich verschlang und an denen ich die Faszination des Lesens erfuhr. Danach kam die Literatur, und hier habe ich das langsame Lesen gelernt, das Innehalten und die eigenen Randbemerkungen dazwischen. Ein Buch, das man in einem Zug ausliest - das ist für mich alles andere als ein Kompliment.

Oft frage ich mich, ob ich in einer rundum glücklichen und zufriedenen Kindheit überhaupt zu lesen begonnen hätte. Jedenfalls habe ich durch das Lesen so vieles gefunden, was zu meinem Leben gehört, dass ich nicht mehr tauschen möchte. "Man liest nur, solange man noch wünscht. Solange man noch hofft. … Leser sind Leute, deren Wünsche und Hoffnungen noch nicht erfüllt, aber auch noch nicht vernichtet sind", schreibt Martin Walser. Die offenen Wünsche sind ein großes Kapital für das weitere Leben.

Bücher können Wünsche wach halten, aber die großen Bücher sind selten Glückslieferanten. "Ich glaube, wir sollten überhaupt nur Bücher lesen, die uns beißen und stechen", meinte Franz Kafka. Und: "Ein Buch muß wie eine Axt sein, um das Eis der Seele zu spalten." Nicht nur das Leben kann Wunden schlagen, auch das Lesen; und es kann Narben hinterlassen, die man nicht loswerden möchte, weil man ohne sie nicht mehr derselbe wäre. Wenn das Lesen eines Buches den Panzer durchstößt und das Eis spaltet, ist man offener für das Leid, aber vor allem auch für das Glück, das das Leben bereithält.

Weltwissen im Wörterbuch

Zu meinen Lieblingsbüchern gehört ein Wörterbuch. Ein Wörterbuch ist nicht dazu da, um es zu lesen, so heißt es, sondern um es bei Übersetzungen oder Unklarheiten in der eigenen Sprache zu benutzen. Mein Wörterbuch verleitet mich trotzdem immer wieder zum Lesen. Es ist ja auch ein besonderes Wörterbuch, das Litauisch-deutsche Wörterbuch von Alexander Kurschat. Kurschat ist der Repräsentant eines Wort- und Weltwissens, das im Zweiten Weltkrieg zu Grunde gegangen ist. 1857 als preußischer Litauer geboren und zweisprachig aufgewachsen, studierte er in Königsberg und wurde Gymnasiallehrer in Tilsit - jener Stadt im ehemaligen Ostpreußen, deren Namen wir nur mehr von ihrem Käse her kennen. Dort hat er ganz allein sein vierbändiges Wörterbuch erarbeitet, dessen Manuskript und Material er durch die Flucht aus Ostpreußen rettete. 1944, ein Jahr nach dieser Flucht, verstarb er in Kiefersfelden, an der Grenze von Oberbayern zu Tirol. Erst ein Vierteljahrhundert nach seinem Tod konnte es im Druck erscheinen, und es ist noch immer das einzige umfangreiche litauisch-deutsche Wörterbuch.

Aber nicht deswegen liebe ich dieses Wörterbuch, weil ich zum Übersetzen darauf angewiesen bin, sondern weil ich darin viel von dem Zauber finde, der von einem einzigen Wort ausgehen kann und lerne, wie viel an einem Wort hängt. Gegen das Vorbeirauschen der vielen Sätze gibt es nichts Besseres als ein Wörterbuch oder ein Gedicht, um zu spüren, wie sehr es in manchen Situationen auf das einzige treffende richtige Wort ankommt - in der Literatur und im Leben. Als Widerstandsübung gegen die ständige Wortberieselung sollte man manchmal in einem Wörterbuch der eigenen Sprache blättern und dort zu lesen beginnen, wo man hängen bleibt. Wenn ich in meinem litauisch-deutschen Wörterbuch das Bild des alten bärtigen Tilsiter Gymnasialprofessors Alexander Kurschat anschaue, glaube ich, dass er sehr genau gewusst hat, wie viel ein einziges Wort wert ist, als er sein Lebenswerk schuf und bewahrte.

Bücher und Gesichter

Lesen ist ein Schlüssel zu Welt. Wer aber nur in Büchern liest, verliert allzu leicht den eigenen Blick auf die Welt. Der Kopf des Lesers wird zum Tummelplatz fremder Gedanken, warnte schon Arthur Schopenhauer: "Solches ist aber der Fall bei sehr vielen Gelehrten: sie haben sich dumm gelesen." Eigenes Denken und eigene Wahrnehmung können durch Lesen von Büchern niemals ersetzt werden.

Das intimste Lesen blickt in das Gesicht eines anderen Menschen: Gesichtszüge lesen, jemandem Wünsche von den Augen ablesen … Da gilt es, immer wieder neu hinzuschauen. "Jedes Wesen schreit im Stillen, um anders gelesen zu werden", schreibt Simone Weil. Ohne diesen neuen Blick wird das Lesen totalitär. Jemanden dazu zu zwingen, sich so zu lesen, wie man ihn liest, nennt Simone Weil Sklaverei; die andern zu zwingen, einen so zu lesen, wie man sich selbst liest, bezeichnet sie als Eroberung.

Dasselbe gilt übrigens für die Bücher. Intolerant waren ja oft nicht die Menschen, die nichts gelesen haben, sondern diejenigen, die wollten, dass nur bestimmte Bücher gelesen werden, und die in einer bestimmten Interpretation - nämlich der ihren. Der österreichische Staatskanzler Fürst Metternich, unter dem die Zensur ihre übelsten Blüten trieb, war selbst ein eifriger Leser, vieles von dem, was ihm gut gefiel, hat er gleich verbieten lassen.

"Leben und leben lassen", lautet eine alte Volksweisheit. Man könnte sie umformulieren in: "Lesen und lesen lassen." Das gilt für Bücher wie für Gesichter. Selbst lesen, ohne missionarisch zu sein, dass die anderen das Richtige lesen. Ein Buch auf seine Art lesen, und die der anderen als Bereicherung empfinden. Im Gesicht anderer Menschen lesen, aber auch im eigenen lesen lassen. Im Blick auf ein Buch, auf die Welt, vor allem aber auf ein geliebtes Gesicht und seinen Blick erfährt man, dass das Lesen immer wieder neu beginnen muss.

Wortflut und Bilderflut

Lesen kann auch ein Irrweg sein. Es gibt die Sucht an Büchern, die weltfremde Eremitage, die Faulheit und Gleichgültigkeit vor der Misere des Lebens. Und es gibt die Überheblichkeit gegenüber früheren Kulturen, deren Basis nicht das Lesen war. Was ist mit jenen, die zu früh geboren wurden, um am Privileg der Lesekundigen teilzuhaben - sind sie nur Schutt unter einer Bildungsmaschinerie, die rücksichtslos vorwärts braust?

Immer wieder werden uns Horrorzahlen präsentiert, wie sehr die Lesefähigkeit in unseren Breiten abnimmt - gerade in jenen Ländern, die traditionell durch ihre Lesekultur geprägt sind. Schuldige sind oft schnell gefunden; die elektronischen Medien, die mehr Bilder als Worte transportieren, bieten sich an. Die Bilderflut wird beklagt, als ob uns die Wortflut nicht schon längst zu schaffen machte.

Dabei sind komplexe Bilder nicht gerade leichter zu lesen als Worte. Und simpel kann sowohl ein Bild als auch ein Wort oder ein Satz sein. Ohne Zweifel erleben wir in der Kultur der Gegenwart eine Hinwendung zum Bild gegen die Dominanz des Wortes - oder gegen die Wortlastigkeit der Jahrhunderte seit Erfindung des Buchdrucks. Aber es hat keinen Sinn, beides gegeneinander auszuspielen.

Die Schriftkultur wird zwar in andere Zusammenhänge eingebunden, aber sie kann nicht mehr verschwinden; sie wird erweitert, wenn man es positiv sehen will. So muss sich auch unser Lesen erweitern zu den neuen Bildern. Dabei darf das Lesen sein ältestes Material nicht aus den Augen verlieren: Landschaften, Tiere, Gesichter, Gebärden und Augen von Menschen. Dann ist lesen lernen immer auch leben lernen.

Das Buch

Cornelius Hell, Feuilletonchef der Furche, hat seine Texte über Dichter und Denker, die in den letzten Jahren in der Ö1-Sendereihe Gedanken für den Tag gesendet wurden, in einem Buch versammelt.

Diese Essays kreisen u.a. um die Schriftsteller Hans Christian Andersen, Thomas Bernhard, Gottfried Benn, Heinrich Böll, Bertolt Brecht, Paul Celan, Günter Eich, Johann Wolfgang von Goethe, Heinrich Heine, Ödön von Horváth, Erhart Kästner, Imre Kertész, Nikolaus Lenau, Thomas Mann, Eduard Mörike oder George Orwell. Und sie beschäftigen sich mit Denkerinnen und Denkern wie Theodor W. Adorno, Albert Camus, Immanuel Kant, John Henry Newman und Simone Weil.

Dazu finden sich im Buch Gedanken über das Schreiben von Tagebüchern oder die Figur der Heiligen Maria in der Literatur und über die Faszination des Lesens.

Neue Texte über Hannah Arendt, Ingeborg Bachmann und Christine Busta wurden eigens für den Band, der diese Woche erscheint, geschrieben.

LESEN IST LEBEN

Gedanken für den Tag

Von Cornelius Hell

Wieser Verlag, Klagenfurt 2007, 286 Seiten, geb., € 19,40

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