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Vor 50 Jahren vollendete Le Corbusier den berühmtesten Kirchenbau des 20. Jahrhunderts.

Keine Architekturgeschichte des Mittelalters kann anders, als sich vorwiegend anhand der großen Kathedralbauten zu orientieren. Was dort als selbstverständlich hingenommen wird, dreht sich im 20. Jahrhundert völlig um: Die außergewöhnlichen Beispiele kommen allesamt aus dem Bereich der profanen Architektur, wenngleich die Ausnahme wieder einmal die Regel bestätigt. Denn mit der Wallfahrtskapelle Notre-Dame du Haut in Ronchamp gelang Le Corbusier 1955 eines der außergewöhnlichsten Bauwerke der modernen Architektur.

Mit der eigenwilligen äußeren Form, die vielfältige Assoziation zulässt, mit den durch Oberlicht gespeisten Seitenkapellen in den Türmen und dem gewaltigen und trotzdem scheinbar schwebenden Dach realisierte er einen starken Raum der Sammlung. Die von einem der französischen Brückenbauer zwischen Kunst und Kirche Marie-Alain Couturier vorgetragene These, dass gute Architektur von sich aus für die religiöse Dimension offen ist, fand hier ein praktisches Beispiel. Doch warum ist Notre-Dame du Haut der berühmteste Kirchenbau des 20. Jahrhunderts? Wie kommt es, dass diese Wallfahrtskirche das meistbesuchte Objekt von Le Corbusier wurde, zu dem Ungläubige der unterschiedlichsten Ideologien genauso hinpilgern wie organisierte Marienfromme?

Architektur-Pilgerstätte

Auf dem Hügel in Ronchamp standen schon seit langem Heiligtümer, zuerst heidnische Tempel, zuletzt eine Wallfahrtskapelle aus dem Jahr 1936, die 1944 durch Artillerie zerstört wurde. So ging man nach dem Krieg an den Neubau, und Le Corbusier selbst nennt die wichtigen Entscheidungsträger: "Initiator: Kanonikus Lucien Ledeur vom Seminar in Besançon, Kind von Ronchamp. Mit der Tiefenwirkung der Aufwecker: Pater Couturier, schon gestorben, aus Paris. Ein unerschütterliches Komitee: Alfred Canet in Ronchamp, der Notar Carraud in Vesoul." Es gab also vor fünfzig Jahren in der Diözese Besançon offensichtlich Verantwortliche, die wagemutig auf die Zeichen der Zeit setzten und sich nicht mehr auf einer mehr oder minder unveränderten Wiederholung längst vergangener Formensprachen ausruhen wollten.

Dabei stand der "ungläubige" Le Corbusier in seinen jüngeren Jahren kirchlichen Projekten skeptisch gegenüber. "Nach reiflicher und ernsthafter Überlegung sind wir zum Ergebnis gekommen, dass wir keine katholische Kirche bauen können. Wenn man den katholischen Kult und seine Tradition respektieren will, kann man nur den bereits existierenden Entwurf mit Beton modernisieren', was bloß zu Polemiken und einem gewalttätigen Abenteuer führen würde", schrieb er 1929 an Madame de Salle. Nach dem Zweiten Weltkrieg konnte sich Le Corbusier schon vorstellen, in den Bergen Sainte Baume, nördlich von Marseille, in der Nähe der legendenhaften Höhle von Maria Magdalena eine Kirche der Verzeihung und des Friedens zu errichten. Erst in Ronchamp sollte sich dann tatsächlich die Möglichkeit bieten, nicht bloß eine Modernisierung vorzunehmen, sondern den Kirchenbau in seiner spezifischen Ausdrucksweise wieder die Höhe der Zeit erreichen zu lassen.

Kirche des Friedens

Bereits auf der Rückreise von seinem Besuch in Ronchamp fertigte Le Corbusier im Zug die ersten Skizzen an, die zeigen, wie er die natürliche Form des Hügels aufnimmt und mit einem architektonischen Sahnehäubchen zu verfeinern sucht. Dabei standen künstlerische Aspekte im Mittelpunkt. Le Corbusiers gestalterische Untersuchungen hatten ihn zu der Erkenntnis einer akustischen Komponente im Reich der Formen geführt. "Mathematik, unerbittliche Physik müssen die Formen beleben, die sich dem Auge darbieten. Ihre Konkordanz, ihre Wiederkehr, ihre wechselseitige Abhängigkeit und die Familienähnlichkeit, die sie verbindet, führen zum architektonischen Ausdruck - einem ebenso subtilen, ebenso exakten und ebenso unerbittlichen Phänomen wie die Akustik."

Man begann also mit einer Landschaftsakustik. Man schuf Formen, die den Horizonten antworteten und sie aufnehmen konnten. Im Innern entwarf man eine Symphonie aus Schatten, Licht und Helldunkel. In dieser akustischen Skulptur sollte es Bauteile geben, die als Empfänger und andere, die als Sender dienen.

Licht erleuchtet die Formen

Nähert man sich Le Corbusiers Kirchenschiff, fallen zuerst die eigenwilligen Formen auf, die den sonst von ihm verwendeten hartkantigen und der geraden Linie verschriebenen Formen entgegenstehen, bevorzugt er doch bei seinem ersten Sakralbau weiche und runde Formen. Dann fällt das Spiel mit dem Licht auf, einerseits erzeugt durch die Glasfenster in der dicken Wand, die wie ein Bollwerk wirkt, andererseits durch den Lichtstreifen, der direkt unter dem mächtigen Dach den gesamten Kirchenraum durchzieht und dieses dadurch beinahe als freischwebend erscheinen lässt. Le Corbusier vermerkt dazu: "Der Schlüssel ist das Licht und das Licht erleuchtet die Formen und diese Formen besitzen das Vermögen, Gefühle zu erzeugen."

Der Raum weist keine Symmetrien auf, aber eine Ausgewogenheit und Harmonie der Kurven, der Innenraum dehnt sich aus, der Boden geht bergab, das Gewölbe steigt an, die Mauern verbreitern sich. Die Einheit von Innen und Außen erlaubt der Wallfahrtskirche in beiden Dimensionen volle gottesdienstliche Funktionalität.

Couturier unterstreicht in seinem Artikel über Le Corbusier und Ronchamp in der Zeitschrift L'Art Sacré nochmals den Zusammenhang zwischen reiner Form und sakraler Ausrichtung eines Bauwerks und sieht in Le Corbusier einen Meister dieses Zusammenwirkens. "Wir sind glücklich, dass wir heute die Möglichkeit haben, Le Corbusier zu würdigen: Wir halten ihn nicht nur für den größten lebenden Architekten, sondern auch für denjenigen, in dem dieser spontane Instinkt für das Sakrale am authentischsten und am stärksten ausgeprägt ist."

Instinkt für das Sakrale

Aus christlicher Perspektive gesprochen, scheint Le Corbusier in der von Paulus im Römerbrief verkündeten Freiheit der Kinder Gottes, mit der Fähigkeit zum "Tanzen in Ketten" gebaut zu haben und damit auch den Christen des 21. Jahrhunderts und all jenen Besuchern, die aus kulturellem Interesse kommen, eine klare Lektion zu erteilen.

Ronchamp ist ein Glücksfall. Ein großer Architekt wagt sich als Sechzigjähriger daran, die große, beinahe übermächtige Tradition des Kirchenbaus in seiner eigenen Sprache weiterzuentwickeln und erleidet dabei nicht Schiffbruch. Die allgemeine Aufbruchstimmung, der Wille zum Wiederaufbau sowohl von äußeren Werten wie Bauten als auch von inneren Werten wie Vergebung und Frieden nach dem Krieg ließen dieses Unterfangen überhaupt erst in eine Realisationsphase eintreten. Nach langen Jahren mehr oder minder phantasieloser Wiederholung bekannter Formen füllte Ronchamp diese riesige Lücke auf, eine Lücke, in der viele andere Versuche zu verschwinden drohten.

Aus dieser besonderen zeitbedingten Situation heraus ist auch klar, dass viele nachfolgende Bauten, die von der architektonischen Leistung her durchaus mit Ronchamp mithalten können - zuvorderst der Konvent La Tourette von Le Corbusier selbst -, nicht mehr dieses große Maß an Aufmerksamkeit erhalten. Das Unerhörte von Ronchamp lässt sich nach Ronchamp nicht mehr so einfach wiederholen.

Unerhört, unwiederholbar

Es bleibt aber eine Grundeinstellung aufrechtzuerhalten: Einerseits von Seiten der Bauherrn, die in die Freiheit eines Dialogs mit den Architekten und Künstlern eintreten müssen, andrerseits die Ernsthaftigkeit bei der künstlerischen Arbeit, wie sie Le Corbusier für sich formuliert hat: "Sein Credo verneinen, den inneren Schwung beseitigen, das ist schon rein menschlich unmöglich, und wenn es dennoch passiert, dann heißt das, der Arbeit des Architekten ihre Daseinberechtigung zu nehmen, nämlich zu dienen." Natürlich lässt sich dieser Dienst, der ein künstlerischer Dienst ist, nicht direkt mit dem christlichen Verständnis von Dienst kurzschließen, das führt eben zu einem Kurzschluss, zu Stromausfall - und dann geht nichts mehr. Aber man kann auf Seiten der Gläubigen diesen Dienst als Dienstleistung in Anspruch nehmen, den Spezialisten zu den besonderen Aufgaben zu sich bitten. Und das war ja wohl auch im Mittelalter und davor schon so.

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