Liebe heißt hier DISTANZ

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Der venezolanische Regisseur Lorenzo Vigas holte mit seinem Drama "Caracas, eine Liebe" im Vorjahr den Goldenen Löwen von Venedig.

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Der venezolanische Regisseur Lorenzo Vigas holte mit seinem Drama "Caracas, eine Liebe" im Vorjahr den Goldenen Löwen von Venedig.

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Lorenzo Vigas ist ein Bildermacher: In "Caracas, eine Liebe", erzählt er die seltsame Liebes- und Sexbeziehung eines begüterten Herren mit einem jungen Mann aus einer Straßengang, all das vor dem desaturierten Hintergrund der sonst so bunten südamerikanischen Realität. Seine breitwandigen Bilder widersprechen dem Thema des Films, der vom Eingesperrtsein in der eigenen Vergangenheit ebenso handelt wie vom Zwiespalt zwischen Macht und Emotion. Als Sohn des venezolanischen Malers Oswaldo ist der studierte Molekularbiologe Vigas mit 47 und seinem ersten Langfilm gleich im Kino-Olymp angekommen und gewann mit dem Goldenen Löwen auch die erste Trophäe dieser Art für seine Heimat Venezuela.

DIE FURCHE: Herr Vigas, sie erzählen von einer homosexuellen Beziehung, aber darum scheint es Ihnen gar nicht zu gehen.

Lorenzo Vigas: Das stimmt. "Caracas" ist kein Film über Homosexualität, sondern einer über unsere emotionalen Bedürfnisse. Homosexualität ist in unserem Land aber immer noch stigmatisiert und geächtet, gerade deshalb wollte ich das Thema in den Film integrieren. Aber grundsätzlich geht es um eine emotionale Reise, und zwar von jemandem, der sich emotional auf nichts einlassen kann. Es war für mich sehr interessant, eine solche Figur inmitten einer Gesellschaft zu platzieren, die eigentlich genau das Gegenteil repräsentiert. Die Menschen in Venezuela sind sehr körperlich im Ausdruck ihrer Zuneigung zueinander. Wir umarmen uns, küssen uns, wir machen viel Liebe. Und in meinem Film haben wir nun einen Mann, der all das nur von einer Distanz aus betrachtet, weshalb ich meinen Film im Original auch "Desde allá", also "Von weitem", genannt habe. Dieser Mann erlaubt niemandem, ihn zu berühren. Mit diesem Kontrast wollte ich spielen.

DIE FURCHE: Woher kommt eigentlich dieses südamerikanische Temperament?

Vigas: Es ist einfach Teil unserer Kultur. Unsere Wurzeln liegen zu Teil in Afrika, daher haben wir auch unsere Liebe zur Musik und zum Körperkontakt. All das basiert auf unserer seit Jahrhunderten praktizierten "Mestizaje", also der Durchmischung unserer Bevölkerungsgruppen durch Heirat, Liebe und Sex. Daraus entsteht ein sehr buntes Leben, das seinen Ausdruck in dieser Herzlichkeit findet. In Elder, dem jungen Stricher in meinem Film, spiegelt sich unsere Mentalität sehr gut wider. Er ist aber auch ein Sinnbild dafür, was sich in Venezuela derzeit wirtschaftlich, politisch und gesellschaftlich abspielt. Wir haben die größte Inflation der Welt, es gibt keine Jobs und die jungen Männer müssen sich auf der Straße herumtreiben und sich verkaufen, um zu überleben.

DIE FURCHE: Der Film thematisiert auch ein Vater-Sohn-Verhältnis.

Vigas: Ich bin geradezu besessen von diesem Thema der Vaterschaft, mit dem ich mich schon in meinem Kurzfilm "Elephants Never Forget" auseinandersetzte. Das war meine erste Berührung mit dem Thema, und "Caracas" ist nun meine zweite.

DIE FURCHE: Was reizt Sie an Vaterfiguren?

Vigas: Gerade in unserer Kultur ist der Vater eigentlich ständig abwesend. Es ist die Mutter, die die Kinder aufzieht. Es gibt den Vater, aber er kümmert sich kaum um den Nachwuchs. Vielleicht ist es daher so faszinierend für mich, mich damit auseinanderzusetzen.

DIE FURCHE: Ihr Film gewann den Goldenen Löwen. Wie ist die Situation für Filmschaffende in Ihrer Heimat?

Vigas: Das lateinamerikanische Kino war schon immer gut, zur Zeit ist es aber noch dazu in Mode. Das hilft uns natürlich sehr. "Caracas" war der erste venezolanische Film überhaupt, der es in den Wettbewerb von Venedig geschafft hat. Das macht uns sehr stolz. Die Situation in Venezuela ist für Filmschaffende derzeit von einer Aufbruchstimmung geprägt: Der Film "Pelo Malo" ("Bad Hair") von Mariana Rondón öffnete vor drei Jahren so etwas wie eine Tür in die Welt: Plötzlich interessierte man sich überall für die durchwegs jungen, künstlerischen Stimmen aus unserem Land, die nun mehr und mehr zutage treten können. Das liegt auch an den fatalen Zuständen im Land, die die Künstler überhaupt erst provozieren, mit ihren Geschichten an die Öffentlichkeit zu gehen. Jedoch: Es wird zunehmend schwerer, Geld aufzutreiben, weil die Inflation so rasant steigt. Das Geld von heute ist eine Woche später viel weniger wert. Man muss also beim Film sehr schnell arbeiten. Andererseits gibt es keine Alternative, denn wir haben sehr viele Geschichten zu erzählen.

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