Liebende als Konkurrenten um die Zukunft

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In den ersten Minuten von Jan Gassmanns semi-dokumentarischem Film "Europe, She Loves" präsentiert er einen Einspieler aus dem Europäischen Parlament: Europa sei die "wohlhabendste Region der Welt", ein "Friedensversprechen". Dann folgt ein Schnitt auf eine Tänzerin eines Nachtclubs. Sie sitzt im Backstagebereich und sagt sich leise etwas vor. Etwa die Sätze aus dem Einspieler? Dann geht sie auf die Bühne, um vor diversen Anzugträgern sexy Laune zu verbreiten. Veronika heißt sie und wohnt in Tallinn. Ihre Zuschauer sind meist Geschäftsmänner aus Brüssel oder Moskau. Zu Hause lebt sie mit Freund Harri, der das gemeinsame Kind ihrem Sohn aus einer früheren Beziehung bevorzugt.

Veronika ist eine der vier Frauen, die in Gassmanns Film für "Europa" stehen. Ein Europa, dem er hier anhand intimer Einblicke in vier Beziehungen in verschiedenen Städten nachspürt, ein Europa, das von den Rändern her zu zerfallen scheint, und ein Europa nicht zuletzt der starken Frauen und der müden Männer.

Gezeigte und wirkliche Nacktheit

Sioban und Terry etwa geben in Dublin mehr schlecht als recht aufeinander acht, nicht wieder zum Heroin zu greifen. Es ist erstaunlich, wie offen die Protagonisten vor der Kamera agieren, gerade auch, weil Gassmann sich dafür entschied, explizite Sexszenen zu filmen. Wirklich nackt sind diese jungen Menschen hier trotzdem erst, wenn sie mit der wirtschaftlichen Realität kollidieren.

In Sevilla wohnen Jan und Karo; sie sind frisch verliebt und planlos, merken aber doch schnell, dass sie Arbeit brauchen und eine Perspektive. Die Frage, die sie mit den anderen Figuren dieses Films, aber wesentlicher noch: mit fast allen Europäern verbindet, ist: Wo ist das zu finden? In Thessaloniki sieht Penny ihre Chance in Italien. Dafür will sie ihren Freund Nicolas verlassen, denn auch seine Liebe ist ihr keine Zukunft.

Gassmann kontrastiert den öffentlichen Raum, in dem sich seine Figuren bewegen, mit ihren privaten Sphären. Daraus entsteht ein Dialog, in dem jene Stellen mit Emotionen gefüllt sind, die sonst der Faktenübermittlung dienen. Sioban steht da in der Schlange vor der Essensausgabe, heimgehen wird sie wieder mit ein Paar Dosen Bohnen. Wie auch anderswo im Film dient hier eine Nachrichtenmeldung zur Vermessung zwischenmenschlicher Lage: "Es gab kein Brot heute", verkündet Sioban daheim. "Schon okay, ich mag Bohnen", antwortet Terry.

Der politische Kommentar in Gassmanns Film wird am deutlichsten, wenn das Große ins Kleine hereinbricht, wenn der Wettbewerb, die Krise, die Fragilität, von denen überall die Rede ist, sich auf die Liebenden überträgt und sie zu Konkurrenten um eine Zukunft werden lässt, im besten Falle zu Vertragspartnerinnen. Fundament haben sie keines, nichts scheint für sie sicher. Die abstrakte Idee eines "gemeinsamen Herzens" ist nicht praktikabel.

Europe, She Loves CH/D, 2016. Regie: Jan Gassmann. Filmladen. 100 Min.

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