Liebling bürgerlicher Diskussionsrunden

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Norbert Leser zwischen dem "neuen Menschen" von gestern und dem alten Menschenbild der Kirchenkonservativen.

Seine Abschiedsvorlesung an der Universität Wien gedieh zu einer viel beklatschten Laudatio auf den Wein. Bald darauf huldigte er auch dem Gesang: als Interpret von Wiener Liedern in einem bekannten Döblinger Heurigenlokal. Ist Norbert Leser, der bekannte Politikwissenschafter, Gesellschaftsphilosoph und einstige SPÖ-Vordenker, ein schrulliger Alter geworden? Sein jüngstes Buch über die "Spezialdemokratie Österreich" nährt solche Vermutung nicht. Aber es lässt ein weiteres Mal erahnen, warum die offizielle SPÖ seit Jahren peinlich berührt ist, wenn sein Name genannt wird: Er prophezeit ihr konsequent ein unrühmliches Ende, wenn sie sich nicht ändert.

Einige der Kapitel im neuen Buch kennt man von Zeitungskommentaren schon. Das letzte über die "Transformation der österreichischen Sozialdemokratie" hat er extra für diesen Band geschrieben. Auch diese Positionen sind vertraut, aber hier auf den Punkt gebracht: Jörg Haiders FPÖ hat wichtige Reformziele thematisiert, denen sich frühere Koalitionen beharrlich verweigert haben, und die "Hysterisierungskampagne" gegen die jetzige Regierung ist ebenso unbegründet wie Fundamentalopposition dagegen.

Der Autor verkennt freilich nicht die Doppeldeutigkeit "gewisser Aussagen und Handlungen" von Jörg Haider, die auch die Interpretation zulassen, er könnte "eine qualitative Veränderung unserer Demokratie in Richtung unbeschränkter Volksherrschaft" anstreben. Der Politologe Leser verteidigt gegenüber exzessiver Volksherrschaft Repräsentation, Rechtsstaat und Gewaltentrennung und will auch seine Reformvorschläge als Stärkung und nicht Schwächung der repräsentativen Demokratie verstanden wissen. Das gilt im Besonderen auch für ein Mehrheiten und Personen begünstigendes Wahlrecht, das Leser wie auch Christian Broda und Leopold Gratz schon in den späten sechziger Jahren favorisierte, während Bruno Kreisky das Gegenteil tat und der FPÖ zuliebe das Proporzwahlrecht verstärkte.

Seit damals schon datiert im Übrigen die Entfremdung zwischen Leser und seiner SPÖ (er fühlt sich heute noch als "kritischer Parteigänger der Sozialdemokratie"): Majestätsbeleidigung wurde in der Ära Kreisky nicht verziehen. Das bekam auch Günther Nenning zu spüren, der Lesers jüngstes Buch in den Himmel hob und seinen Autor zum "großen Verkannten des Landes" hinaufbeförderte. Das ist ein bisschen übertrieben, denn in dem Maß, in dem die SPÖ Leser von sich schob, wurde er zum Liebling bürgerlicher und auch kirchlicher Diskussionsrunden, die sich über seinen strammen Konservativismus in puncto Kirchenreform freuten und nun auch Gefallen an seinen Thesen finden werden, der Islam sei, "genau genommen, eine christliche Häresie", von der "potentiell und reell Aggressionen" ausgingen, weshalb die geforderte Toleranz nicht die Wahrheitsfrage verdrängen dürfe.

Ungeachtet aller Gegenwartsbezüge fasziniert an Lesers jüngstem Werk auch die Schilderung der Sozialdemokratie der Ersten Republik als Quasi-Religion, die den "neuen Menschen" nicht nur in Partei, Gewerkschaften, Konsum und Bildungsvereinen, sondern auch über Sport, Natur und Feuerbestattung schaffen wollte: als "Inkarnation und Vorwegnahme der historischen Zukunft". Was wir heute belächeln, war ein sehr ehrenwertes Anliegen, das Lesers Rechtfertigungsversuch durchaus verdient, zumal er die Hauptirrtümer des Austromarxismus schonungslos beim Namen nennt: das blinde Vertrauen auf die Zunahme sozialdemkoratischer Wählerstimmen durch Zunahme der unselbständig Erwerbstätigen und den unvermeidlichen automatischen Zusammenbruch des Kapitalismus.

Dieser Irrtum verführte die Austromarxisten zu Radikalrhetorik ohne Handlungskonsequenz, was die Anhänger enttäuschte, die bürgerlichen Gegner aber einte: das genaue Gegenteil von sinnvoller Politik. Die daraus abgeleitete These von der "geteilten Schuld" am Unheil der Ersten Republik hat Leser den Zorn auch sozialdemokratischer Theoretiker eingetragen, ist aber nicht widerlegbar. Wenn man dann auch noch die sehr selbstbewusste Sprache Lesers in Betracht zieht - "Die SPÖ verkennt mich, aber Wilhelm Ellenbogen, Paul Lazarsfeld, Karl Popper und Viktor E. Frankl haben mir Recht gegeben, wenngleich auch ich nicht wirklich unfehlbar bin ..." - , dann versteht man schon, dass der joviale Heurigensänger mit den beinharten Analysen heutigen Sozialdemokraten auf den Wecker geht.

Einen davon nennt er gern beim Namen: Heinz Fischer, der, statt als Intellektueller die SPÖ auf verhängnisvolle Fehlentwicklungen aufmerksam zu machen, die Drehungen und Wendungen aller Parteiobmänner immer mitgemacht und der Partei "das gute Gewissen gegeben hat, das sie über ihre wahre Lage hinweggetäuscht hat". In gewisser Weise sind die SPÖ und die von ihr Jahrzehnte lang geförderte FPÖ nach Leser kommunizierende Gefäße: Wenn die SPÖ ihren Anhängern etwas schuldig bleibt, wird die FPÖ auf deren Kosten stärker. Das gilt auch für heute, da die Zukunft nach Lesers Auffassung von Haider abhängt: ob er sein Lebenswerk "herostratisch zerstören" oder sich mit einer kleineren, aber regierungsfähigen FPÖ abfinden wird.

Norbert Leser kann nicht zuletzt deshalb dem Austromarxismus etwas abgewinnen, weil dieser den dritten Weg zwischen Reformismus und Bolschewismus gesucht (aber nicht gefunden) hat. Auch heute kann weder ein Kapitalismus pur und schon gar nicht eine Rückkehr zu einem neu aufgemischten Marxismus das Rezept für die Zukunft sein. Auch darin ist Norbert Leser Recht zu geben.

Aber verspricht wirklich eine Neubelebung von Max Adlers Ruf nach dem "Neuen Menschen" Erfolg? Hat diese Formel, wenn sie nicht (wie von Paulus) religiös verstanden wird, nicht schon schrecklichen Diktatoren den Weg geebnet? Wie könnte ein "dritter Weg" von morgen sinnvoll beschaffen sein? Darauf gibt Norbert Leser ebenso wenig eine schlüssige Antwort wie die zeitgenössischen Verfechter der katholischen Soziallehre. An dieser geistigen Auszehrung leidet unsere Zeit.

Spezialdemokratie Österreich. Von Norbert Leser.

Amalthea Verlag, Wien 2002

176 Seiten, geb., e 14,90

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