Vilnius gespiegelt - © pixabay

9.Mai: Litauen hat nichts zu feiern

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Stalins Sieg kostete das Land 200.000 Tote, 300.000 Deportierte und 100.000 Emigranten. Das Ende des Zweiten Weltkriegs war der Beginn von 45 Jahren sowjetischer Okkupation.

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Stalins Sieg kostete das Land 200.000 Tote, 300.000 Deportierte und 100.000 Emigranten. Das Ende des Zweiten Weltkriegs war der Beginn von 45 Jahren sowjetischer Okkupation.

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Haben wir ein gemeinsames Datum des Zweiten Weltkriegs, das von allen gefeiert werden könnte? Diese Frage lässt im Ohr eines Litauers, der die Okkupation der Nazis und der Kommunisten durchlebt hat, Assoziationen anklingen, die beinahe identisch sind mit jenen, die Menschen aufgestiegen sind, die in ein Nazi-KZ gerieten und die Losung "Arbeit macht frei" zu Gesicht bekamen.

Litauen hat nichts zu feiern, weder am 9. Mai, wenn Russland feiert, noch am 8. Mai, wenn Europa des Sieges gegen das faschistische Deutschland gedenkt. Das einzige Datum dieses Krieges, dessen die Litauer gedenken - und das mit Traurigkeit -, ist der 14. Juni 1941. Ein Tag der Trauer und der Hoffnung. Der Tag, als die sowjetischen Okkupanten die ersten 30.000 Litauer und litauischen Juden nach Sibirien deportierten. Die begabtesten Menschen des Landes. Der Großteil von ihnen kehrte nicht lebend in die Heimat zurück.

"Sieg" war Okkupation

Wie kann ein freier Bürger den Sieg einer inhumanen Ideologie (des Kommunismus) gegen eine andere von der selben Art (den Faschismus) feiern? Einen Sieg, der für Litauen zum Anfang einer schaurigen, 45 Jahre dauernden Okkupation wurde?

Acht Jahre nach dem offiziellen Ende des Zweiten Weltkriegs kämpften die litauischen Partisanen gegen die Rote Armee, die das Land okkupiert hatte.

Stalins Sieg kostete die 2,5 Millionen Litauer 100.000 Emigranten, 300.000 nach Sibirien deportierte Bürger, 200.000 getötete Partisanen und Zivilisten, die Vernichtung des Offizierskorps, der Professorenschaft, des Handelssystems, der Bauern und der Landwirtschaft und eine für lange Zeit demoralisierte Gesellschaft.

Die westlichen Demokratien haben uns verraten. Im Jahr 1945 haben sie nicht einmal versucht, gegenüber Stalin ihre demokratischen Argumente vorzubringen. Der Westen hat sich genauso verhalten, wie es das faschistische Deutschland im Jahr 1939 mit dem zweiten Protokoll des Molotow-Ribbentrop-Paktes gemacht hat - er hat Litauen auf zynische Weise Stalin überlassen. Welchen Unterschied macht es deshalb für Litauen, wann der Krieg der Weltmächte in Europa zu Ende gegangen ist?

Die Lager nach 1945

"Die Verbannungen und Inhaftierungen der Okkupation, die Tragödie des Holocaust, der Konzentrationslager, die erzwungene Emigration - das ist der schmerzlichste Schlag der totalitären Regime für Litauen. Diese Verbrechen sind in unserem Land passiert, als der schrecklichste Krieg in der Geschichte der Menschheit schon zu Ende war", bemerkte der litauische Präsident Valdas Adamkus, als er über seinen Entschluss sprach, nicht nach Moskau zu reisen, um den Sieg der Sowjetarmee zu feiern, die Litauen verwüstet hatte.

Die Politiker der USA und der EU haben einen riesigen Druck auf Präsident Adamkus ausgeübt, damit er sich nur dem Druck Moskaus füge. Sind die Litauer arrogante Besserwisser, verstehen sie die Geschichte und die gegenwärtigen Realitäten nicht?

Denen, die so etwas behaupten, würde es selbst nicht schaden, die Geschichte dieses Krieges zu lernen.

Eine Annahme: Können die etlichen Millionen Soldaten der Roten Armee, die in faschistische Gefangenschaft gerieten und nach dem Krieg aus den Nazi-KZs in den Gulag überstellt wurden, den Sieg Stalins feiern? Können die Soldaten des sowjetischen Buchenwald feiern, die dort von 1945 bis 1953 vielleicht noch raffinierter gequält worden sind als im Nazi-KZ? Gibt es wenigstens ein Datum des Krieges, das nicht Millionen von deutschen oder tschechischen Frauen den Schauer aufsteigen ließe, die von Soldaten der UDSSR vergewaltigt worden sind?

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