Literarische Probebühne?

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Kinder-und Jugendliteratur ist keine literarische Schwundstufe, sondern Kunst. Sie spielt eine wichtige Rolle beim Erwerb von Literaturkompetenz.

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Kinder-und Jugendliteratur ist keine literarische Schwundstufe, sondern Kunst. Sie spielt eine wichtige Rolle beim Erwerb von Literaturkompetenz.

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Ist Kinderliteratur Literatur? Diese Frage stellt Christine Nöstlinger 1985 bei der Eröffnung der Buchwoche. Sie meint die Frage natürlich provokativ. Rezension und Kritik von Kinderliteratur erschöpfen sich zu diesem Zeitpunkt noch in Begutachtung, und die Germanistik spricht gut und gerne von zielgruppenorientierter Trivialliteratur. Die Defensivhaltung wird damit zur Grundhaltung all jener, die sich ernsthaft der Kinder-und Jugendliteratur widmen: Jener also, die durch ihre Werke moderne Poetiken einer Literatur für Kinder und Jugendliche entwickeln, und jener, die diese Poetiken reflektieren.

Heute ist eine Einrichtung wie die STUBE, die dieser Tage ihr 70-jähriges Bestehen feiert, längst kein gallisches Dorf mehr. Sie bestimmt vielmehr einen dynamischen Diskurs über Kinder-und Jugendliteratur mit. In den bisherigen sechs Jahrgängen des "Fernkurses Kinder-und Jugendliteratur" haben sich weit über tausend Interessierte aus dem gesamten deutschsprachigen Raum von der STUBE zu einer Auseinandersetzung mit Kinder-und Jugendliteratur verleiten lassen, die an den Schnittstellen von Wissenschaft, Kritik und Vermittlung verläuft.

Seltsam separiert

Dennoch: Der Bereich der Kinder- und Jugendliteratur bleibt von jenem der Allgemeinliteratur seltsam separiert. Universitäre Curricula beziehen Kinder- und Jugendliteratur zwar mittlerweile gleichermaßen mit ein wie das Feuilleton. Als integrativer Bestandteil der allgemeinen Literaturszene wird Kinder-und Jugendliteratur dennoch nur in Ausnahmefällen begriffen. Man kann in Österreich Lehrveranstaltungen zur Kinder-und Jugendliteratur besuchen; Kinder-und Jugendliteratur in anderen Lehrveranstaltungen mit einzubringen, führt aber vielfach immer noch zu Irritation oder Ablehnung. Man kann jenseits normierter Buchtipps Kritiken zur Kinder-und Jugendliteratur in österreichischen Printmedien finden; dass eine Literaturbeilage wie das Booklet der FURCHE dafür so konstant und selbstverständlich wie für die Allgemeinbelletristik Platz schafft, ist dennoch die Ausnahme. Ebenso wie der jeden Monat ausgewählte "Lektorix" im Hauptblatt.

Gerne hört man aus dem Kreis von Kolleginnen und Kollegen ein Bedauern darüber, dass die eigenen Kinder leider nicht mehr im entsprechenden Alter sind, das Interesse an der Kinderliteratur daher abgeflaut ist. Ist jeder Vampirologe selber Vampir? Wird die Forschung über Ilse Aichinger enden, jetzt da sie selbst leider keine Auskunft mehr über das eigene Werk geben kann? Schon klar. Die private wie professionelle Beschäftigung mit Büchern jenseits des Pixi-Formates bedarf der Lese-ebenso wie der Literaturkompetenz. Lässt aber die Tatsache, dass ihre primären Leserinnen und Leser in diesen Fertigkeiten gerade erst ausgebildet werden, die Kinderliteratur zu einer literarischen Schwundstufe werden? Weder sagt die Adressierung von Kinderliteratur etwas über ihre literarische Qualität aus, noch schließt sie erwachsene Leserinnen und Leser per se aus.

Die Jugendliteratur kennt in der Vielfalt ihrer ästhetischen Verfahren heute keine Unterschiede mehr zur Erwachsenenliteratur. Sie wird nur noch über ihren spezifischen Darstellungsgegenstand definiert. Das Erzählen über Adoleszenz reicht damit weit in den Bereich der Allgemeinliteratur hinein -man denke an Werke von Paulus Hochgatterer oder Milena Michiko Flas ar.

Begleiter von Sprach-und Schrifterwerb

Die Kinderliteratur aber bildet ihre ganz eigenen Genres heraus. Ihre Besonderheit liegt darin, dass sie unterschiedliche Entwicklungsübergänge begleitet -jenen des Spracherwerbs gleichermaßen wie jenen des Schrifterwerbs. Dazwischen und weit darüber hinaus hat sie Anteil daran, literarische Kompetenz herauszubilden.

Gemeint ist damit weniger die Lesefähigkeit an sich, sondern vielmehr das Erfassen narrativer Zusammenhänge und die Fertigkeit, Textstrukturen und Erzählverfahren zu erkennen und weiterzudenken. Es gilt zu lernen, Fiktion als solche zu begreifen, und sie von dem zu unterscheiden, was wir als Realität ansehen -sie damit aber auch zu verknüpfen. Denn die Kinder-und Jugendliteratur kann auch als Probebühne für (emotionale) Erfahrungen und Entdeckungen gesehen werden, die Kindern und Jugendlichen im realen Leben (noch) nicht offen stehen. Oder sie mit Ansichten und Haltungen konfrontieren, die (noch) nicht die ihren sind, die aber dennoch ihrem Erleben entspringen.

Eine (erzwungene) schulische Praxis, mit Blick auf die Zentralmatura vieles anzulesen, literarische Texte aber weder in ihrer kanonischen Bedeutung noch in der Gesamtheit ihrer narrativen Möglichkeiten zu erfassen, scheint mir persönlich nicht als utopiertes Ziel literarischer Bildung. Wer also bis dahin nicht zum Leser oder zur Leserin wurde, wird auch später (wenn die medial vielfältigen Angebote der wilden Jugendjahre an Anziehungskraft und kollektiver Bedeutung verloren haben) nicht mehr zum Buch zurückkehren. Wenn Lesefertigkeiten dann zumindest eine aufgeklärte Anteilnahme an journalistischen oder fachspezifischen Diskursen ermöglichen, ist viel gewonnen. Das Interesse an Literatur ist dennoch verloren, wenn es nicht bereits sehr viel früher grundgelegt wurde. Durch literarische Angebote, auf die nur stößt, wer nicht allein der häppchenweise aufbereiteten Information und computergenerierten Empfehlungen vertraut.

Wenn Ihnen dieses Buch gefallen hat, könnte Sie auch dieses Buch interessieren. Schon möglich. Interesse an Lektüre ist dieserart bedienbar; Interesse an Literatur bedarf eines umfassenderen Meinungsbildungsprozesses, der der Kinder-und Jugendliteratur aber vielfach nicht offen steht. Oder nur an den beliebten Verweis geknüpft wird, dass es sich hier um ein ganz tolles Buch und mitnichten nur um ein Kinderoder Jugendbuch handelt. Da ist sie wieder, die scheinbare Unvereinbarkeit von literarischer Qualität und Adressierung. Und gar diese Bilderbücher! Da steht ja kaum etwas drin. Wer mag da von Literatur sprechen?

Das Bilderbuch als Kunstform

Ebenso wie die Graphic Novel wird das Bilderbuch heute als Kunstform begriffen, die nicht notwendigerweise an Kinder adressiert sein muss. Vielmehr handelt es sich um literarische Genres, in denen das Erzählen vorrangig mit grafischen Mitteln erfolgt -und erst nachrangig durch die Schriftsprache. Das Lesen grafisch erzählter Literatur bedarf weit komplexerer Fertigkeiten als vermutet: Es gilt nicht nur schriftsprachliche Zeichen, sondern auch bildliche Komponenten miteinander in Beziehung zu setzen und zahlreiche Leerstellen (zum Beispiel jene zwischen den Panels) imaginativ aufzufüllen.

Mit dem Bilderbuch verfügt die Kinderund Jugendliteratur also über ein einzigartiges Genre, das an der Schnittstelle von Literatur und bildender (respektive angewandter) Kunst liegt. Geknüpft an die Möglichkeiten, die das verlangsamte Betrachten von Bildern im Vergleich zu audiovisuellen Medien birgt. Über die eigentlich erzählte Geschichte hinaus lassen sich durch die Bilddetails, durch bildliche Zitate und Anspielungen weitere Geschichten entwickeln. Das Lesen erhält einen partizipativen Charakter und fügt der Kinderliteratur einen sozialen Aspekt hinzu: Lesen vor dem Lesen erfolgt selten alleine, sondern erhält durch das Vorlesen einen wichtigen Aspekt gemeinsamer Lektüreerfahrung. Auch die Teilhabe am Literarischen Quartett wird also durch Kinderliteratur grundgelegt.

STUBE Die Studien-und Beratungsstelle für Kinder-und Jugendliteratur feiert in einem Festakt am 11. Mai ihren 70. Geburtstag. Im Oktober 2017 beginnt wieder ein "Fernkurs Kinder-und Jugendliteratur".

Weitere Informationen: www.stube.at

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