Literarische Reisen NACH CHINA

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Eva Lüdi Kong hat für ihre Übersetzung von "Die Reise in den Westen" den Preis der Leipziger Buchmesse gewonnen. Die Übersetzung klassischer Literatur aus China - textnah und in vollem Umfang - boomt.

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Eva Lüdi Kong hat für ihre Übersetzung von "Die Reise in den Westen" den Preis der Leipziger Buchmesse gewonnen. Die Übersetzung klassischer Literatur aus China - textnah und in vollem Umfang - boomt.

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Zehn Jahre hat Eva Lüdi Kong dafür aufgewandt, die 1320 Seiten des chinesischen Klassikers "Die Reise in den Westen" zu übersetzen. Jetzt liegt der Roman erstmals vollständig vor (Reclam 2016). Am 23. März erhielt Eva Lüdi Kong dafür den Preis der Leipziger Buchmesse. Vordergründig ist die geschilderte Reise von China nach Indien ein großes Abenteuer auf dem Weg einer religiösen Läuterung. Der buddhistische Mönch Tripitaka reist in Begleitung verschiedener Helfer nach Westen, wo er Buddha sehen will und heilige Schriften für die Verbreitung in China empfangen soll. Der lange Weg ist eine Prüfung, die 16 Jahre dauert und ununterbrochen von Dämonen und Drachen, Geistern und Untoten, hin und wieder auch von gierigen Mönchen sabotiert wird. Eine Hauptfigur ist der daoistisch-rebellische Affenkönig Sun Wu Kong mit seinem 108.000-Meilen-Wolkenüberschlag und den magischen Verwandlungskünsten. Einen 40.000 Pfund schweren Eisenstab steckt er verkleinert ins Ohr oder haut ihn - vergrößert - den Feinden Tripitakas um die Ohren.

Nachdichtung und Original

Dieses Buch ist ein spektakulärer Lesespaß, eine Schatzkammer der Fantasie und Erzählfreude, die bis heute alle Genres der chinesischen Kulturindustrie mit Stoff versorgt. Aber es ist eben auch die allegorische Vermittlung von den in China koexistierenden drei Lehren des Buddha, des Kong Fuzi und des Laozi. "Hier ist auf lebendige, leichte und doch bemerkenswert tiefgründige Weise die gesamte chinesische Geistesgeschichte der vergangenen Jahrhunderte verwoben", schreibt die Übersetzerin in ihrem selbst schon preiswürdigen Nachwort, das den Mehrwert des kulturgeschichtlichen Hintergrundes souverän mitliefert. Darauf kommt es an, denn ein klassischer chinesischer Roman entfaltet ungeheure Textmassen, deren Struktur und innere Ordnung mit dem philosophischen Gehalt verbunden ist. Sie verlangen zunächst Geduld, was den Einstieg und die zahllosen Eigennamen betrifft. Aber es ist wie bei einem Dostojewskij-Roman, nach dem Einlesen in hundert bis hundertfünfzig Seiten ziehen sie gewaltig an.

Kommentar und einführendes Nachwort sind also unabdinglich für das Verständnis der chinesischen Klassiker und es ist sehr zu begrüßen, dass diese Tradition fortgesetzt wird. Bei S. Fischer erscheint 2017 die komplette Übersetzung von "Die drei Reiche" in zwei Bänden, bei Suhrkamp wird eine Komplettübersetzung von "Die Räuber vom Liang Shan Moor" vorbereitet, der neue Titel in der Übersetzung von Rainald Simon: "Überlieferung von den Ufern der Flüsse." Auf diese Übersetzung darf man gespannt sein, Rainald Simon hat in seiner famosen Übersetzung der Gedichtsammlung "Shijing" bewiesen, wie man Vermittlung und Bewahrung im lyrischen Übersetzen harmonisiert: abgedruckt wird links das Original in chinesischer Silbenschrift, daneben die Umschrift, auf der rechten Seite steht dann die deutsche Übertragung, die sich extrem nah ans Original hält ("Shijing. Das altchinesische Buch der Lieder", Reclam 2015).

"Es gibt bei den Verlagen ein allgemeines Bedürfnis, nach dreißig Jahren eine Neuübersetzung in Angriff zu nehmen, das betrifft nun selbst die chinesische Literatur. Und es ist nötig, weil die bisherigen großen Übersetzungen trotz aller Reife nicht vollständig sind oder Probleme aufwerfen", sagt der Bonner Sinologe Wolfgang Kubin zu den aufwändigen Übersetzungsprojekten unserer Zeit. Diese bisherigen Übersetzungen stammen überwiegend von Franz Kuhn (1848-1961), ein fleißiger Pionier auf diesem Gebiet, dessen Werke in ansprechenden Dünndruckausgaben im Insel Verlag erschienen. Stark gekürzt und umgedichtet, sind sie auf ein "Reading for the Plot" hin entworfen, sie konzentrieren sich also auf Handlung, Unterhaltung und Spannung und riskieren leider großzügige Opfer.

Heroentum und Kampfgetümmel

Andeutungsweise kann man das schon mit einem Romananfang in zwei Sätzen veranschaulichen: "Reiche wachsen und verschwinden. Staaten kommen und vergehen." So beginnt Franz Kuhns 475-Seiten-Insel-Version von "Die drei Reiche", dem großen Roman über den Zerfall des Han-Reiches, und so übersetzt Eva Schestag: "Die Geschichte lehrt, dass die Macht über die Welt, wenn sie lange geteilt war, geeint werden muss, und wenn sie lange geeint war, geteilt werden muss."(Luo Guanzhong: "Die drei Reiche", S. Fischer 2017). Dieser Lehrsatz bietet auf Anhieb eine ganze Lektion chinesischer Geschichtsphilosophie, der tiefere Sinn der Erzählung wird sogleich transparenter. Das Werk über die drei Reiche wurde im 14. Jahrhundert aus verschiedenen Quellen kompiliert und erinnert in seinem Duktus noch sehr an die historisch-politische Chronik, die ihm zugrundeliegt. Ein Roman im westlich-modernen Sinn ist das Original nicht ganz, es bietet bei wenig Beschreibung noch weniger Psychologie und selten einmal einen gewagten Perspektivenwechsel, viel Heroentum und Kampfgetümmel.

Franz Kuhn hat im Sinn einer konventionellen Romanlektüre das etwas uferlose Geschehen geschickt verdichtet und freizügig eine modernistische Romanerzählung entwickelt, in der jetzt vorliegenden kompletten Übersetzung dagegen gerät der Leser erst nach einigen Dutzend kriegerischen Interventionen und rollenden Köpfen in eine anhaltende Lektürespannung. Aber dann erschließen sich die Charaktere auf faszinierende Weise, etwa der daoistische Militärberater Kongming, der durch Geduld und List und die Anwendung überlieferter "Strategeme" auch bei weitem überlegene Mächte bezwingt.

Entstanden aus dem Fundus von Überlieferung und literarischer Schöpfung, erweist dieser Geschichtsroman die Überlegenheit kluger Strategie über noch so massive Rüstung, totale Machtansprüche und militärische Gewalt. Kuhns delikate Kürzung dagegen erweist etwas anderes: Die zeitgebundene und politische Wirkungslogik jeder literarischen Übersetzung. Seine Übersetzung entstand 1940 für Kiepenheuer, zu einer Zeit, als man das "Dritte Reich" für unvergänglich hielt; hier wurde nach der bearbeiteten Insel-Ausgabe von 1981 zitiert.

Kein absoluter Text

Übersetzungen großer Werke sind grundsätzlich ein dynamisches Textgeschehen, es gibt nicht den absoluten Urtext, der seine absolute Entsprechung in einer anderen Sprache findet. Es gibt ja oft nicht einmal eine zweifelsfreie Autorschaft. Vom berühmten Sittenroman "Traum der Roten Kammer" werden 80 Kapitel Tsao Hsüä-tjin (1719-1763) zugeschrieben, weitere 40 Kapitel dem Herausgeber Gao Ë, der das Werk 1791 erstmals drucken ließ. Franz Kuhn teilt im Nachwort seiner Insel-Fassung von 1951 mit, einem europäischen Übersetzer erscheine es unmöglich, irgendwelche stilistischen oder formalen Brüche zwischen den Autoren zu erkennen. Der Sinologe und Übersetzer Rainer Schwarz bestand jedoch darauf, wirklich nur die ersten 80 Kapitel von Tsao Hsüä-tjin zu übersetzen. Immerhin in einer vollständigen Fassung und in aller Bescheidenheit: "Ich bin nur ein ganz einfacher Übersetzer und habe mich immer bemüht, das Original zu verstehen und es in einem ordentlichen Deutsch wiederzugeben. Wenn man aber wie Kuhn aus 120 Kapiteln 50 macht, findet man das Original kaum wieder. Es war auch mehr Chinoiserie als übersetztes Chinesisch." Schwarz hatte allerdings Pech. Die noch in DDR-Zeiten verabredete Übersetzung war 1990 fertiggestellt, dann wurden DDR und BRD vereinigt, sein Verlag aber zerschlagen, und so geriet das Manuskript nach Jahren an einen Wissenschaftsverlag, wo schließlich Martin Woesler die "fehlenden" 40 Kapitel übersetzte und by the way auch die Übersetzung von Rainer Schwarz überarbeitete ("Der Traum der Roten Kammer", Bochumer Universitätsverlag 2006-2009).

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