Literatur in Geheimschrift

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Schreiben in einer wenig verbreiteten Sprache am Beispiel Dolomitenladinisch.

Begonnen hat alles im Jahr 15 vor Christus, als sich die Stiefsöhne von Augustus, Titus und Tiberius, aus kriegerischen Gründen in den alpinen Tälern tummelten. Aus dem rätischen Substrat und dem Vulgärlatein entwickelten sich die verschiedensten rätoromanischen Idiome im gesamten Alpenraum, die sich bis heute erhalten haben und für die Mehrsprachigkeit in der Literatur verantwortlich sind.

So müssen Schriftsteller, die heute in einer weniger verbreiteten Sprache, z. B. auf Ladinisch, schreiben, der Globalisierung - im Sinne von "Alles überall" - auch in den entlegensten Tälern Rechnung tragen. (Da Minderheiten, Minderheitssprachen bzw. -literaturen nichts mit dem Adjektiv minder gemein haben, verwende ich für meine Mutter- und Literatursprache lieber den Begriff weniger verbreitete Sprache.) Der Schriftsteller Cees Nooteboom hat den Nagel auf den Kopf getroffen: "Die Literatur eines kleineren Sprachgebiets kann und wird für die Welt außerhalb dieses Sprachgebiets so lange nicht existieren, wie sie nicht übersetzt ist. ... Ohne Übersetzung nur Bücher in Geheimschrift."

Unübersetzbare Literatur

Aber welcher Ladiner beherrscht eine der "großen" Sprachen so gut, dass er oder sie das eigene Werk übersetzen kann? Und welcher Übersetzer einer "großen" Sprache wagt sich an ein ladinisches Werk heran, ohne den Originaltext lesen zu können und daher auf die sinngemäße Übersetzung der Autorin selbst angewiesen zu sein?

Ich hatte Glück. Dank Gerald Nitsche ("Eye-Verlag - Literatur der Wenigerheiten" aus Landeck) sind 2003 auf diese Weise meine "Briefe ins Nichts" erschienen. Die Erstübersetzung ins Deutsche meines 1996 auf Grödnerisch erschienenen Romans "Lëtres te n fol" habe ich mangels Besserem selbst gemacht, bevor Lektoren den Text gründlich überprüft haben, doch meine Skepsis bezüglich Übersetzbarkeit von Literatur an und für sich blieb.

Lëtres te n fol - Briefe ins Nichts

... Ihr hattet es zugelassen, dass man eure ganze Welt und euer Denken in jene wenigen Wörter, die die Sprachen euch zur Verfügung stellten, zwängte.

... Vom ersten Tag an hattet ihr euch von den Sprachen sagen lassen, wer ihr wart, wer die anderen waren, wie eure Welt aussah, was eure Rechte waren, welcher euer Körper war und schlussendlich sogar, wie euer Denken aussah. Auf dieses zwielichtige Spiel wollte ich mich nicht einlassen.

... Ich spürte, dass es in meiner Welt keine Grenzen gab. Ich konnte sie bis ins Unendliche ausdehnen. Euch zuhörend hatte ich sofort erkannt, dass eure Sprachen die Grenzen eurer Welt und eures Denkens waren.

... Ich aber sah durch die Tiere jene Weite und Größe des Erkennens und des sich Bewusstwerdens der Welt, die nur außerhalb der Sprache erreichbar sind, im Schweigen also. Unser Schweigen war aber keinesfalls vergleichbar mit eurem "den Mund halten". Unser Schweigen hatte die Ausdruckskraft aller eurer Sprachen zusammengenommen und noch darüber hinaus.

... Wer einmal von der Freiheit der Gedanken ohne Grenzen gekostet hatte, konnte sich nicht mehr in jene kleine enge Welt der Sprache einsperren lassen. Er würde daran ersticken.

... Die Welt und unser Sein durch die Sprache erkennen und verstehen wollen, wird niemals möglich sein.

... Heute weiß ich mit Sicherheit, dass das Schweigen die letzte Funktion ist, die man beim Erlernen einer Sprache beherrscht. Es ist der letzte Schritt. Und es ist auch der schwierigste. Es bedeutet, alles sagen zu können.

Lëtres te n fol.

Briefe ins Nichts.

Landeck, Eye Verlag 2003.

Der ladinische Text wurde von Rut Bernardi ins Ladin Dolomitan, die ladinische Einheitsschriftsprache, übertragen.

Die Hautfigur des Romans, Beta, verweigert aus Protest gegen die Mehrsprachigkeit das Sprechen.

Auch meine ebenfalls 2003 erschienenen "Sonettenkränze" (siehe unten) wollte der Skarabäusverlag in Innsbruck zu recht nicht nur für das zahlenmäßig kleine ladinische Publikum herausgeben. Nebenbei bemerkt lohnt sich für einen Verlag die Publikation eines ladinischen Buches niemals. So habe ich wiederum die Sonette sinngemäß ins Deutsche übersetzt und mit einem Lektor wurden sie gemeinsam Vers für Vers überprüft.

Zwischen drei Sprachen

Wir leben in einer Zeit, in der Mehrsprachigkeit ausschließlich positive Konnotationen hervorruft. Doch wer tagtäglich mit zwei, drei oder mehr Sprachen umgehen und arbeiten muss, weiß, was das bedeutet. Vor Jahren habe ich noch die Äußerungen Nietzsches über die Mehrsprachigkeit angezweifelt, doch mittlerweile stimmen sie mich sehr nachdenklich: "... das Lernen vieler Sprachen (schadet), insofern es den Glauben, Fertigkeiten zu haben, erweckt und tatsächlich auch ein gewisses verführerisches Ansehen im Verkehr verleiht; ... Endlich ist es die Axt, welche dem feineren Sprachgefühl innerhalb der Muttersprache an die Wurzel gelegt wird: dies wird dadurch unheilbar beschädigt und zugrunde gerichtet." Gerade diese letzte Behauptung kann ich am Beispiel meines Muttersprachenerwerbs bestätigen.

Doch Vorsicht! Es kommt natürlich darauf an, welche Ansprüche man an die eigenen Sprachkenntnisse setzt und welchen Erfordernissen sie gerecht werden sollen. Ein Kaufmann, ein Handwerker oder ein Schilehrer in Ladinien, der sich in mehreren Sprachen mehr oder weniger verständigen kann, kommt natürlich besser durchs Leben als ein Einsprachiger. Doch für Denker und Schreiber kann es ein Übel sein, sich in keiner Sprache so richtig zu Hause und sattelfest zu fühlen. Es gibt natürlich Ausnahmen wie Paul Celan oder Elias Canetti, die etliche Sprachen nicht nur beherrschten, sondern in mehreren Sprachen auch hohe Literatur schrieben. Doch die Wahrscheinlichkeit, auch nur rein statistisch gesehen, dass die ladinische Literatur solche Genies hervorbringt, ist verschwindend klein.

Folklore oder Fremdsprache

Inzwischen habe ich die Erfahrung gemacht, dass es für Schreiber in weniger verbreiteten Sprachen heute einer grundsätzlichen Entscheidung bedarf. In der ladinischen Literatur hat man die Wahl zwischen:

1. Man schreibt weiterhin traditionelle Texte, ausschließlich in ladinischer Sprache, die meist der Volksliteratur zuzurechnen sind.

2. Man versucht sich auf Ladinisch in zeitgemäßer Literatur und muss somit mit Übersetzungen, den Schritt nach außen wagen.

Im ersten Fall wird man im kleinen Kreis Unterstützung und Zustimmung bekommen, ohne irgend etwas mit der Welt der Literatur zu tun zu haben. Im zweiten Fall muss man zu Hause so lange mit Nichtbeachtung und sogar mit Ablehnung rechnen, bis man von der Literaturwelt der "großen" Sprachen anerkannt wird. Dieser Fall ist jedoch in der ladinischen Literatur noch nie eingetreten.

Luianta

Sun l tëmp mpermetù a aspité,

Sul lech cun ti oma ies cundaneda,

Luianta lucënta y tan prijeda,

Spiedl de na sor che messova strité.

* pat sant à l'oma ulù respeté,

Che pra la muntanioles ies ruveda,

Sun ti popul es for dat na udleda,

Salvan i ultims ch'à messù riesc mucé.

Ti pere, l rë, ne se cruziova nia,

Per l scioz d'Aurona al dat ca si fia,

Calunian Conturines per marciadé.

I nemics à venciù zënza fadia,

Tu Luianta udoves la baujia,

L'anda Zecuta ëssa sapù cie fé.

Luianta

Um auf die verheißene Zeit zu warten,

Bist du mit deiner Mutter auf dem See verdammt,

Leuchtende und verehrte Luianta,

Spiegel der Schwester, die kämpfen musste.

Den heiligen Schwur wollte die Mutter einhalten,

So gelangtest du zu den Murmeltieren,

Doch auf dein Volk warfst du immer ein Auge

Und rettetest die letzten, die schnell flüchten mussten.

Dein Vater, der König, kümmerte sich nicht,

Für den Schatz von Aurona verkaufte er seine Tochter,

Verriet Conturines, um Geschäfte zu machen.

Die Feinde siegten ohne Mühe,

Du, Luianta, hast die Lüge erkannt,

Die Tante Zecuta hätte einen Ausweg gewusst.

Rätoromanisch

Bündnerromanisch (CH):

Sursilvan und Sutsilvan (Vorder- und Hinterrheintal), Surmiran (Albulatal und Oberhalbstein), Puter (Oberengadin), Vallader (Unterengadin und Münstertal): um 60.000 Sprecher.

Dolomitenladinisch (I):

Provinz Bozen: Gherdëina (Grödental), Badiot y Mareo (Gadertal und Enneberg) Provinz Trient: Fascian (Fassatal), Provinz Belluno: Fodom (Buchenstein), Ampezan (Cortina d'Ampezzo): um 32.000 Sprecher.

Friaulisch (I):

Furlan (Friaul): um 700.000 Sprecher.

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