Annie Ernaux - © Foto: APA / AFP / Julien De Rosa

Annie Ernaux: Literarisch und politisch

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Für den jüngst geäußerten Vorwurf des Anti­semitismus findet sich in Annie Ernauxʼ Literatur kein Beleg. Mancher ihrer politischen Aktionen fehlt aber jene Reflexion, die ihre Literatur so auszeichnet.

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Für den jüngst geäußerten Vorwurf des Anti­semitismus findet sich in Annie Ernauxʼ Literatur kein Beleg. Mancher ihrer politischen Aktionen fehlt aber jene Reflexion, die ihre Literatur so auszeichnet.

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Annie Ernaux, deren Bücher seit einigen Jahren ins Deutsche übersetzt werden und auf großes Interesse stoßen, fiel vor allem aufgrund ihrer Autofiktion auf. Was die 1940 geborene Französin schreibt, ist autobiografisch grundiert, nie aber schreibt sie Betroffenheitsliteratur. Ganz im Gegenteil prägt ihr Schreiben eine oft unglaubliche Distanz zum Selbsterlebten (sei es eine Abtreibung, sei es der Versuch des Vaters, die Mutter zu töten), eine nüchterne Reflexion ihrer Selbst, die auch den Quellen ihrer Erinnerung gilt.

Distanz ist ihre Methode, Ereignisse im eigenen Leben anzuschauen und auf gesellschaftliche Bedingtheit und Bedeutung hin zu befragen; dazu gehört der Blick auf die die französische Gesellschaft so prägenden Klassen und die ihnen eigene Sprache, Regeln, Riten, Gesetze, Glaubenssätze. Es ist die Distanz einer Ethnologin, einer Soziologin, die genau hinsieht und auch das eigene Beobachten und Erinnern beobachtet. Erst beim Schreiben wird manches sichtbar – und das ist unter anderem eine kollektive Biografie, in der die „feinen Unterschiede“ (Pierre Bourdieu) zwischen den Milieus, zwischen Reich und Arm sichtbar werden, Unterschiede, die damals wie heute zu tiefen Gräben führen.

Was es bedeutet, sich durch sozialen Aufstieg von der eigenen Herkunft wegzubewegen, welche Scham entsteht, die Distanz zur Herkunft schafft und vereinzelt – das hat Ernaux in ihren Werken auf eine so eindrückliche Weise sichtbar gemacht wie kaum jemand anderer. Ihre Literatur lässt sich als Erkundung, als geschichtliche, soziologische und literarische Forschungsreise verstehen und hat Soziologen wie Didier Eribon beeinflusst. Ernaux ist Beobachterin ihrer selbst, und sie weiß auch, wie sie in „Das Ereignis“ schreibt, die Erschütterung, die sie beim Erinnern und Schreiben empfindet, als Schreibgefühl von jenem Gefühl zu unterscheiden, das sie „damals“ empfand.

Umso mehr verwundert, dass Annie Ernaux, die immer wieder sozialpolitische Versäumnisse der französischen Regierung anprangert und sich diesbezüglich auch öffentlich an Macron wendet, als politische Akteurin dieses Reflektieren des eigenen Tuns und des Rahmens und Kontextes, innerhalb dessen es stattfindet, manchmal vermissen lässt. Ernaux unterschrieb Briefe der Bewegung BDS („Boycott, Divestment and Sanctions“), unter anderem forderte sie 2019 zusammen mit über 100 anderen französischen Künstlerinnen und Künstlern einen Boykott des Eurovision Song Contest in Tel Aviv. Ein anderes Schreiben kritisierte ein Projekt zum israelisch-französischen Kulturaustausch als Versuch Israels, sein Image „weißzuwaschen“. 2021 soll sie einen Brief gegen israelische Angriffe gegen Palästinenser und Gaza unterzeichnet haben, in dem Israel als Kolonialmacht bezeichnet und der Apartheid geziehen wird.

Fluchtpunkte der Erinnerung

In Deutschland und Österreich, also Ländern mit spezifischer Tätergeschichte, wird die israelkritische BDS-Bewegung, die international von vielen Intellektuellen und Künstlern unterstützt wird, als antisemitisch eingeschätzt. Damit landen auch die Anliegen des Postkolonialismus, wie sie BDS vertritt, auf dem Prüfstand. Wie kann denn eine Denkweise, die sich gegen die Unterdrückung von Minderheiten richtet, zugleich einem Land wie Israel das Existenzrecht absprechen, einem Land, das gerade aufgrund der Verfolgung und Vernichtung von Juden in der Schoa als ein Ort der Zuflucht gegründet wurde?

Der israelische Soziologe Natan Sznaider hat zu dieser Frage mit „Fluchtpunkte der Erinnerung. Über die Gegenwart von Holocaust und Kolonialismus“ (Hanser 2022) ein interessantes, differenziertes Buch vorgelegt, das jedem an diesem Thema Interessierten schwer ans Herz gelegt werden sollte. Während die einen wie auch Achille Mbembe Israel und seine Besatzungspolitik als kolonialistisch einschätzen, pochen die anderen gerade auf die (freilich schwer zu definierende) Grenzlinie zwischen „legitimer Kritik“ und „nichtlegitimer Verneinung des Existenzrechts Israels“. Für jene, „die Israel als sicheren Fluchtpunkt für die Juden verstehen“, ist es unerträglich, Israel als „kolonialistische Siedlergesellschaft“ beschrieben zu sehen.

Sznaider zeigt, wie wichtig es ist, in der Diskussion darüber genau hinzusehen, woher und wohin jeweils der Blick gerichtet ist „und welche historische Perspektive eingeschlagen wird“. Diejenigen, die den Staat Israel „als eine brutale und gewalttätige politische Formation verstehen“, fokussieren ihren Blick „auf den Nahen Osten, sehen Macht und keine Machtlosigkeit, Souveränität und keine Heimatlosigkeit“. Wenn sich dieser räumliche Blick aber in die jüdische Geschichte ausweitet, dann stehen „Verfolgung und Machtlosigkeit, ja sogar Vernichtung im Vordergrund“. Dann könnte „der Zionismus, jene Bewegung also, die auf die Ausübung jüdischer politischer Souveränität pochte, selbst als eine antikolonialistische Befreiungsbewegung beschrieben werden“. Können diese beiden Perspektiven denn miteinander verbunden werden? Das fragt Sznaider in seinem wichtigen Buch. Man sollte es lesen. Wie auch Annie Ernauxʼ literarische Werke.

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