Wald - © Foto: Pixabay

Frischer Wind und junger Atem

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Finnland ist Gast bei der heurigen Frankfurter Buchmesse (8.-12. Oktober). Eine gute Gelegenheit, jüngere und ältere finnische Literatur zu entdecken.

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Finnland ist Gast bei der heurigen Frankfurter Buchmesse (8.-12. Oktober). Eine gute Gelegenheit, jüngere und ältere finnische Literatur zu entdecken.

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Der jüngste Atem ist kaum hörbar. Der kleine Jussi ist endlich ... eingeschlafen ... auch er strebt unbewusst vorwärts auf dem Meer der Zeiten, in seine weit entfernte Männlichkeit, in das noch weiter entfernte Alter und in den unbekannten Tod, nach dem alles wieder beim Alten ist: Das Ufer des Zeitenmeeres ist auch nicht in Sicht." So beschreibt Finnlands Nobelpreisträger Frans Eemil Sillanpää die ersten Stunden des Landarbeiters Jussi, der 1918, am Ende seines unbewussten Strebens durch Armut, Vergänglichkeit und Unwissenheit, ein Opfer des finnischen Bruderkrieges wird. "Frommes Elend" (Guggolz 2014) gehört zu den intensiveren Eindrücken der finnischen Literatur und wirkt noch heute auf literarische Traditionen ein.

Eros und Sozialkritik

Der Mensch im tragischen Konflikt mit den Verhältnissen beschäftigt auch Marja-Liisa Vartio in ihrem Klassiker von 1959. In nüchterner Sprache, aber voller jugendlicher Intensität, beschreibt sie die erste Liebe der 18-jährigen Leena zu einem verheirateten Mann. "Die Eltern glänzten rosig und waren zufrieden"(nach der abendlichen Sauna) - solche Sätze sind nur in der finnischen Literatur möglich, aber den Skandal der Schwangerschaft und Leenas Flucht in die Großstadt überstehen die Eltern nicht mehr ganz so rosig. Jugendliche Erotik auf dem Lande spielt in Rax Rinnekangas atmosphärisch aufgeladener Sommergeschichte "Der Mond flieht" (Graf 2014) von 1991 eine zentrale Rolle. Tragischerweise kommt es im Dorf im Norden jedoch zu einem echten Frauenopfer, das die Gefühlswelt des Erzählers und somit dieses Meisterwerk in eine ganz andere Stimmungslage versetzt.

"Im Hof von Elanto liegen tote Fische. Klein-Keke fragt, ob sie in den Pfützen gelebt haben. Sie sind tot, sie sind gestorben, genauso wie die Menschen und wie die Fliegen. Man darf nicht sterben. Man muss lächeln. Sonst stirbt alles." Das ist einer von vielen sorgsam komponierten Short Cuts in Markku Kivinens Großstadtroman "Beton Götter"(Secession 2014), der Erkundung einer der großen Plattenbausiedlungen Finnlands. Kivinen ermöglicht uns authentische Einblicke in das Leben von vier jugendlichen Charakteren und einer tragisch liebenden Religionslehrerin, ein literarisches Portrait der 1970er-Jahre, in dem die unaufdringliche Perspektive des Soziologen perfekt mit sprachlicher Feinfühligkeit harmoniert. Ein Jahrhundert tiefer in die finnische Geschichte lotet das gefeierte Debüt von Aki Ollikainen. Es ist das Hungerjahr 1867, in dem die Bäuerin Mirja ihren verhungernden Mann verlässt, um mit den Kindern in St. Petersburg Zuflucht zu suchen. Finnland gehörte damals zum Zarenreich, aber die arme finnische Familie wird nicht ganz dazugehören.

Finnische Geschichtstendenzen

Die Fremdheitserfahrung dieser Flüchtlinge ist kein zufälliges Geschichtsereignis, sie kann hier auch als eine Perspektive auf anhaltende finnisch-russische Kulturbeziehungen betrachtet werden. Die Schweden in Finnland kennen diese Entfremdung, und doch gehört ihre Literatur zum Kanon und stellt eine geistige Brücke zu Skandinavien her. Davon zeugt auch Tove Jansson, dazu gehört Kjell Westö, der in seinem an kulturellen und zeitgeschichtlichen Anspielungen reichen Roman "Das Trugbild" (btb 2014) auf den finnisch-schwedischen Klassiker Karl August Tavaststjerna verweist. Dessen "Harte Zeiten" von 1891 erscheint in neuer Übersetzung (dtv 2014). Westös Gesellschaftsroman spielt Anfang der 1930er-Jahre in Helsinki und ist formal ein wenig retromodern. Das Geschehen dreht sich um eine bürgerliche Mittwochsgesellschaft aus vier Liberalen und zwei Konservativen. Doch während diese Stützen der Gesellschaft über Ideologie und Weltpolitik in Europa streiten, plant die brave Kontoristin Frau Wiik einen Racheakt an einem Hauptmann der weißen Konterrevolution, der die junge Linke 1918 brutal in einem Gefangenenlager malträtiert hatte. Diese Episode gehört zu den dunklen Themen der finnischen Nationalgeschichte, leider erhellt hier die Verschiebung auf einen Akt der Privatrache nicht allzuviel.

Am Komplex der Geschichtsverdrängung arbeiten auch Sofi Oksanen und Katja Kettu, und auch sie stecken in der subjektiven Perspektive auf das Geschichtliche fest. Oksanen wendet sich der estnischen Seite ihrer Herkunft zu und nimmt sich einen politischen Karrieristen vor, der sowohl während der deutschen Besatzung in den 1940er-Jahren als auch in der Sowjetischen Republik Estland seine Interessen zu verfolgen weiß. In einer umständlichen Schachtelkonstruktion verstecken sich komplexe Probleme, so das der persönlichen Kollaboration vieler Frauen mit SS-Männern und die Rolle der estnischen Faschisten. Ideologisch zielt der Roman erkenntlich auf eine Dekonstruktion sowjetischer Geschichtsschreibung, dadurch unterläuft die Autorin die Möglichkeiten multiperspektivischer Darstellung.

Kettu benutzt den Lapplandkrieg und die Lagersysteme der Deutschen für eine vitalistische Lovestory: Eine Hebamme verfällt einem SS-Schergen und unternimmt in einem Gefangenenlager Sterilisationen an Zwangsprostituierten. Sprachlich lebt Kettu die erotisch-sinnenhafte Seite der Erzählerin radikal aus, historisches Bewusstsein bringt die Hebamme mangels epischer Distanz leider nicht ans Licht der Welt.

Rosa Liksom ist in Lappland aufgewachsen, berichtet von ersten kosmopolitischen Erfahrungen in russischen Städten am Polarkreis und schreibt über den Homo Sowjeticus, der auch in Finnland eine längere Geschichte hat als der Nazi. Im "Abteil Nr. 6" (DVA 2013) geht es - ebenfalls unter gezielter Anwendung roher Sprache - um ein zwischenmenschliches Intermezzo in postsowjetischer Zeit, eine Zugfahrt mit russischen Ausblicken in die Epoche nach 1989.

Global Writing Helsinki

"Der Flughafen ist die zentrale Bühne der Globalisierung. Er ist der Kreuzungs-und Kristallisationspunkt dramatischer menschlicher Schicksale und großer Gefühle." Also wie gemacht für Hannu Raittila und seinen nur am Anfang etwas zähen Globalisierungs-Roman "Kontinentaldrift" (Luchterhand 2014). Zwei finnische Flughafengroupies sowie die zunehmend dichte Beschreibung brandaktueller Themen um das Fliegen in terroristischen Zeiten sorgen für wachsende Spannung. Raittila beherrscht die Organisation komplexer Stoffe erzählerisch am besten, Johanna Holmström kann sich am einfühlsamsten in ihre Figuren versetzen. Auch in ihrem Helsinki-Roman spielen Mädchen die Hauptrolle. "Asphaltengel", das sind Mädchen, die aus angeblich unerfindlichen Gründen von Balkonen stürzen oder aus Fenstern springen; nach und nach macht dieser Roman deutlich, wie eine ausländerfeindliche Gesellschaft rassistischen Druck aufbaut, das drängendste gesellschaftspolitische Problem der Globalisierung.

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