Ror Wolf - © Foto: APA / dpa / Uwe Anspach

Hoch, Ror Wolf, hoch hoch hoch

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Der deutsche Dichter und Schriftsteller Ror Wolf wäre in wenigen Tagen 90 Jahre alt geworden. Sein umfassendes künstlerisches Werk droht jedoch ­bereits in Vergessenheit zu geraten.

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Der deutsche Dichter und Schriftsteller Ror Wolf wäre in wenigen Tagen 90 Jahre alt geworden. Sein umfassendes künstlerisches Werk droht jedoch ­bereits in Vergessenheit zu geraten.

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Texte der Avantgarde zu lesen ist weitgehend außer Mode gekommen. Technische oder randomisierte Verfahren der Texterstellung, wie die Montage, gelten gerade heute, wo sie auf Computern leicht automatisierbar wären, als nicht mehr zeitgemäß, obwohl sie eine ganze Generation von Autorinnen und Autoren geprägt haben. Man denke nur an Elfriede Jelinek.

Dass Montagetexte sogar eine vergnügliche Lektüre sein können, beweist das Werk des 2020 verstorbenen Ror Wolf. In wenigen Tagen, am 29. Juni 2022, wäre er neunzig Jahre alt geworden.

Der in Thüringen als Richard Wolf geborene deutsche Dichter und Schriftsteller ging in den 1950er Jahren nach Westdeutschland und lebte für einen Großteil seines Lebens in Frankfurt und in Mainz. Dort, in Mainz, auf der Kupferbergterrasse, habe ich ihn zwischen 2007 und 2018 mehrmals besucht. Und dort hat er mir auch erzählt, wie es zu seiner Verwandlung von Richard Wolf in Ror Wolf kam: Kaum in Frankfurt angekommen, sah er ein Plakat, das die Lesung eines Schriftstellers namens Richard Wolf ankündigte. Wolf musste also seinen Namen ändern, um nicht verwechselt zu werden. Sein Faible für Namen, Verwechslungen und für das Verschwinden kann man in seiner Prosa nachlesen, wie im folgenden Text aus der Sammlung „Mehrere Männer“:

Ein Mann gab ein Festessen, zu dem auch der Fotograf Schlegel erschienen war. Am Ende des Abends hob er sein Glas, trank Schlegel zu und rief: Hoch, Oranien, hoch hoch hoch. Die Gesellschaft stimmte ein, obwohl nicht ein einziger der Gäste, ebensowenig wie der Gefeierte, verstand, worauf sich der Trinkspruch bezog. Erst am folgenden Tag fand der sehr nachdenkliche Bibliothekar O, der auch zu den Anwesenden gehört hatte, heraus, wie alles zustande gekommen war. Der Mann hatte den Fotografen Schlegel mit dem Dichter Tieck verwechselt, diesen mit dem Dichter ­Tiedge und dessen Hauptwerk Urania mit Oranien.

Ror Wolf hat als Autor von Kurzprosa, Romanen, Gedichten und Hörspielen sowie als Schöpfer von Collagen aus Illustrationen alter Lexika ein umfassendes Werk hinterlassen, das heute vergessen zu werden droht. Darüber hinaus ist über sein Werk noch längst nicht alles gesagt worden. Die Nähe zu Robert Walser, Peter Weiss und Samuel Beckett wurde wohl festgestellt. Es fehlen aber die Herleitung von Wolfs Texterstellungsverfahren aus der Avantgarde und eine Darstellung, wie er diese Verfahren verändert und adaptiert hat. Konsequenterweise hat Wolf seine Technik in allen Gattungen angewandt.

„Die gute Suppe“

Die Montageprinzipien, die nach dem Zweiten Weltkrieg zur Anwendung kamen (z. B. der „methodische Inventionismus“ der Wiener Gruppe), gingen vom Satz als größter sprachlicher Einheit aus. Sie konstruierten also nach aleatorischem Prinzip Sätze aus vorgegebenem Wortmaterial. Die Gleichförmigkeit der so entstandenen Texte ließ bald Unzufriedenheit aufkommen. Friedrich Achleitner, ein Autor, der Avantgarde und konkrete Poesie immer wieder persifliert hat, schrieb daraufhin einen Text, mit dem er die Montage imitierte: „Die gute Suppe“.

Es sei nur eine Randbemerkung, dass das Wort „Suppe“ in den Texten Ror Wolfs (z. B. im Roman „Fortsetzung des Berichts“) immer wieder eine wichtige Rolle spielt. Achleitner hatte dabei einen bestimmten Texttyp im Hinterkopf, nämlich jene Englischsprachkurse, die es in den 1950er Jahren in vielen Zeitungen gab. Er fand diese Texte hölzern, weil jedem Substantiv ein Adjektiv beigestellt wurde, was ihnen vielleicht jenes scheinbar mechanische Aussehen gab, das Achleitner an Montagetexte erinnerte. Achleitner ahmte diesen Stil nun nach und schrieb von der guten Suppe, den großen Händen, der langen Gabel, dem blauen Tisch, den notwendigen Dingen usw. Im Gegensatz zur Montage ersetzte er allerdings auf der Textebene die Schilderung eines Vorgangs: die Zubereitung der guten Suppe.

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