Judith Butler - © Foto: Clemens Fabry / Die Presse / picturedesk.com

Judith Butler: Das Buch zur Wahl

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Hierzulande vor allem für ihre Gender-Forschung bekannt, hat Judith Butler nun ein neues hochaktuelles Werk vorgelegt: Sie entwirft eine Ethik der Gewaltlosigkeit.

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Hierzulande vor allem für ihre Gender-Forschung bekannt, hat Judith Butler nun ein neues hochaktuelles Werk vorgelegt: Sie entwirft eine Ethik der Gewaltlosigkeit.

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Es war vermutlich nicht als Buch zur Wahl gedacht, immerhin bauen Judith Butlers Thesen unter anderem auf ihrer Adorno-Vorlesung „Kritik der ethischen Gewalt“ von 2002 oder dem Band „Gefährdetes Leben“ von 2005 auf. Zu diesem Zeitpunkt hätte niemand, außer vielleicht die „Simpsons“, es für ernsthaft möglich gehalten, dass Donald Trump zum US-Präsidenten gewählt werden würde. Es geht auch nicht um die Wahl oder um Trump direkt, aber hinter allem scheint durch, was die US-amerikanische Präsidentschaftswahl 2020 als klimatischer Höhepunkt symbolisiert: die Polarisierung und Spaltung der US-Gesellschaft, die in einen immer rasanter und brutaler vonstattengehenden Prozess mündet, in dem andere Gruppen so konsequent und ausnahmslos entwertet werden, dass sogar das Schreckgespenst eines Bürgerkriegs nicht mehr als völliges Hirngespinst abgetan werden kann.

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Judith Butlers „Die Macht der Gewaltlosigkeit – Über das Ethische im Politischen“ liefert dafür eine theoretische Grundlage und versucht die Frage zu erörtern, wie es dazu kommt, dass verschiedene soziale und demografische Gruppen sich vom Gebot der Gewaltlosigkeit ausnehmen und damit Gewalt an anderen legitimieren. Der zentrale Begriff in Butlers Theorie der Gewaltlosigkeit (und damit auch der Gewalt) ist die Betrauerbarkeit. Sie meint damit nicht die tatsächliche Trauer um Verstorbene, sondern den prinzipiellen Wert von Geschöpfen: „Betrauerbar sein heißt angesprochen sein auf eine Weise, die mich wissen lässt, dass mein Leben zählt, dass sein Verlust nicht bedeutungslos ist, dass mein Körper als einer behandelt wird, der zu leben und zu gedeihen imstande sein sollte und dessen Prekarität so gering wie nur möglich sein sollte, wofür auch förderliche Bedingungen gegeben sein sollten.“

Legitimierte Gewalt

Diese Betrauerbarkeit wird zu einer Art sozialen Währung, die bestimmt, welche Chancen und Rechte uns in der Gesellschaft zukommen, wie viel wir zu sagen haben und auch, wie sicher wir uns fühlen können. Butler geht es nicht um eine Form von Gewaltlosigkeit, die auf der moralischen Entscheidung eines Individuums basiert. Ihr geht es auch nicht um einen ideologischen Pazifismus. Gewalt, Gegengewalt und Gewaltlosigkeit versteht Butler als „Spannungsfeld sozialer Bezüglichkeit“. Am besten erklären lässt sich das anhand der Frage, wann es gesellschaftlich (moralisch, nicht unbedingt juristisch) legitimiert ist, Gewalt anzuwenden. An oberster Stelle steht hier die Selbstverteidigung. Dabei ist es nicht nur gerechtfertigt, die eigene Unversehrtheit mit Gewalt sicherzustellen, sondern all jener Geschöpfe (Butler schließt hier ganz bewusst auch Tiere ein), „deren Bezug zu mir Teil meines Selbstseins ist“. Das führt dazu, dass ich all jene verteidige, die mir gleichen, gegen jene, die sich von mir unterscheiden. Losgelöst vom konkreten Einzelfall heißt das, dass die Ausnahme von der Gewaltlosigkeit eine Unterscheidung von Bevölkerungsgruppen exekutiert.

Andere als betrauerbar zu betrachten heißt, die Empathie aufzubringen für das Fremde, das mir eben nicht gleicht.

Fehlende Betrauerbarkeit ist damit immer auch ein Signal der Marginalisierung, man denke an die jahrtausendelang legitimierte Gewalt an Frauen, Gewalt gegen Homosexuelle und rassistische Gewalt. Die Black-Lives-Matter-Bewegung reklamiert genau das: dass ihr Leben zählt, dass es so betrauerbar sein sollte wie „weiße Leben“ auch. Um Gewalt zu legitimieren, auch von institutioneller, sogar von staatlicher Seite, wird ein Bedrohungsszenario entworfen, das Gewalt als Selbstverteidigung erscheinen lässt. „Jede mögliche Bedrohung, das heißt jede imaginierte Bedrohung, genügt schon, um ohne Weiteres Gewalt anzuwenden.“ Butler bringt hier als Beispiele Polizeigewalt gegen Schwarze bzw. die Black-Lives-Matter-Bewegung, aber auch den Umgang mit politischen Gegnern in der Türkei und den Nahostkonflikt. Und hier fällt dann doch der Name Trump, der dafür bejubelt wird, dass er „die Abschaffung von Verboten gegen Rassismus und Gewalt“ fordert und „linke“ Forderungen wie feministische Anliegen oder Umweltschutz zur Gefahr erklärt, gegen die vorzugehen ist.

Empathie für das Fremde

Butler rezipiert Freud, Foucault und Frantz Fanon, da wird es, wenn man frühere Arbeiten kennt, zum Teil etwas redundant. Von Redundanzen ist auch der Text selbst nicht frei, wobei die Wiederholung in unterschiedlichen Kontexten das Verständnis durchaus fördert. Am spannendsten ist es daher, wie sich Butlers Thesen auf gegenwärtige Prozesse umlegen lassen, das zeigt sich unter anderem im Postskriptum, das in einem Appell endet. Butler verwendet ihre Thesen zur Gewaltlosigkeit für die Forderung zur „Verpflichtung auf radikale Gleichheit“. Selbstverständlich sind wir davon auch in Europa meilenweit entfernt, wie Butler anhand der Flüchtlingspolitik ausführt: „Wenn die Flüchtlinge kommen, werden sie uns zerstören oder sie zerstören die Kultur oder Europa oder Großbritannien. Mit dieser Überzeugung werden dann gewaltsame Übergriffe – oder der langsamere Tod-im-Leben in Internierungslagern – gegen eine Bevölkerungsgruppe gerechtfertigt, die phantasmatisch selbst als Ausgangspunkt der Zerstörung vorgestellt wird.“ Mit anderen Worten: Das Leben von Flüchtlingen ist weniger betrauerbar und damit schutzwürdig als das Leben der Europäer. Butlers Konzept der Gewaltlosigkeit teilt sich in zwei Richtungen: zum einen in den Verzicht auf Gewalt gegenüber (und das Töten von) anderen, zum anderen die „Pflichten zur Bewahrung des Lebens eines anderen oder anderer“. Andere als betrauerbar zu betrachten heißt, die Empathie aufzubringen für das Fremde, das mir eben nicht gleicht. Das ist selbstverständlich kein neuer Gedanke.

Das Konzept der Betrauerbarkeit ist bei Butler nicht neu, sie hat es schon in ihrer Adorno-Rede dargelegt, und es umfasst Prozesse und Überlegungen, die man auch anders benennen kann und die auch schon anders benannt wurden, um die Ungleichheit von Leben zu markieren. Gerade in der Einfachheit des Gedankens und der Benennung, die Emotion hervorruft, statt nur intellektuelles Verständnis, liegt aber die Stärke des Begriffs, denn jeder kann sich selber fragen, wer für ihn betrauerbar ist und wen er in Wahrheit davon ausnimmt, ohne das im Normalfall zu artikulieren. Im deutschsprachigen Raum ist Judith Butler noch immer am bekanntesten für ihre Gender-Forschung, die Rezeption ihrer politischen Arbeiten bleibt leider etwas dahinter zurück oder reduziert sich auf Butlers Kritik an Israels Umgang mit den Palästinensern. Das ist ein großes Versäumnis. Mit „Die Macht der Gewaltlosigkeit“ legt Butler ein wichtiges, engagiertes Werk vor, einen Aufruf zu Solidarität, zum Verzicht auf Gewalt und zur Überwindung sozialer Gräben. Butler wendet sich auch gegen den paternalistischen Schutz gefährdeter Gruppen. Jedes Leben muss von Beginn an als betrauerbar gelten und seine Gefährdung oder Verlust vermieden werden. Dass dies eine Utopie ist, weiß Butler selbst. Aber es sollte uns ein Maßstab sein, an dem wir die Organisation unseres Zusammenlebens ausrichten.

Die Autorin ist Senior Scientist am Innsbrucker Zeitungsarchiv, Institut für Germanistik, Universität Innsbruck.

Judith Butler - © Foto: Clemens Fabry / Die Presse / picturedesk.com

Judith Butler

Professorin für Komparatistik, Gender-Studies und Kritische Theorie an der University of California, Berkeley.

Professorin für Komparatistik, Gender-Studies und Kritische Theorie an der University of California, Berkeley.

Butler - © Foto: Suhrkamp
© Foto: Suhrkamp
Buch

Die Macht der Gewaltlosigkeit

Über das Ethische im Politischen
Von Judith Butler Aus dem Amerik.
von Reiner Ansén
Suhrkamp 2020
250 S., geb. € 28,80

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