Melancholie - © Foto: picturedesk.com / akg-images / Cameraphoto

Melancholie: Die schwarze Galle der Schwermut

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Ein hellwacher Beobachter seiner Zeitgenossen und ihrer Umtriebe: Vor 400 Jahren veröffentlichte der englische Geistliche und Gelehrte Robert Burton seine „Anatomie der Melancholie“.

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Ein hellwacher Beobachter seiner Zeitgenossen und ihrer Umtriebe: Vor 400 Jahren veröffentlichte der englische Geistliche und Gelehrte Robert Burton seine „Anatomie der Melancholie“.

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In Wellen hat die Pandemie zuletzt viele Menschen mitten in Unsicherheit und Verzweiflung gezogen. Längst macht sich der Mehltau der Melancholie breit über der Stimmung in unseren Corona-Gesellschaften. Depressionen und seelische Zermürbung nehmen bedrohlich zu.

Der Trost des Geistes kann helfen. In der Apotheke der Weltliteratur lagert seit 400 Jahren ein Heilmittel, das zumindest lindert. „Ich habe über die Melancholie geschrieben, um sie mir mit dieser Unternehmung vom Leibe zu halten.“ Diese Erkenntnis setzte der Oxforder geistliche Gelehrte Robert Burton (1577–1640) an den Anfang seiner epochalen Untersuchung zur „Anatomie der Melancholie“. Denn, so schrieb der 44-Jährige: „Es gibt keine gewichtigere Ursache der Schwermut als den Müßiggang und kein besseres Heilmittel, als sich zu beschäftigen.“ Und mit Bedacht fügte er hinzu: „Wenngleich gilt: Sich mit Torheiten zu befassen, bringt wenig Nutzen, so heißt es doch auch beim göttlichen Seneca: Besser Zweckloses tun als nichts. Und eben um die aus der Untätigkeit geborene Lethargie nicht aufkommen zu lassen, habe ich mich dem, was bei Macrobius spielerische Mühe heißt, unterzogen und meine freien Stunden sinnvoll genutzt.“

Pseudonym Democritus Junior

Seine Untersuchungsmethode ist die Selbstreflexion. Da steht er in beachtlicher antiker Tradition, die er auch ausgiebig herbeizitiert: vor allem die Stoiker, von Seneca bis Marc Aurel. Aber auch Mediziner wie Hippokrates, Galen oder die späteren Paracelsus und Forestus sind Gewährsleute.

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Gleich am Eingang des Großessays setzt er sich mit den antiken Denkern wie mit seinesgleichen zusammen und preist den vorsokratischen Philosophen Demokrit als den herausragendsten von ihnen: „mit einem Wort, er war ein Universalgelehrter“. So wählt er das Pseudonym Democritus Junior für sein Buch, auch um unter der gelehrten Kollegenschaft als Verfasser unerkannt zu bleiben. In seinem heißgeliebten Christ Church College, „der blühendsten Hochschule Europas“, lebt er weltabgewandt wie der historische Demokrit im Refugium seines Gartens. Dank der reichen Büchersammlung des Instituts habe er, wie er voll Stolz vermerkt, „in den letzten 37 Jahren mein Wissen fleißig gemehrt“.

Das zahlt sich für den Leser aus. In seinem 1621 erstmals erschienenen Buch wird eine Schatztruhe der an der Antike geschulten Gelehrsamkeit geöffnet, wie sie damals mit den vielfältigsten Preziosen der klassischen Bildung gefüllt sein konnte.

Den Übelstand der Welt, der für sich schon trübsinnig machen kann, hält Burton in bester Vanitas-Tradition in weit ausholenden Redebögen fest, die von der Antike bis in seine für ihn nicht minder verachtenswerte Gegenwart reichen. Seine wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Überlegungen zeigen ihn ebenso staunenswert firm wie seine erd- und mentalitätskundlichen Kenntnisse. Ein hellwacher Beobachter seiner Zeitgenossen und ihrer Umtriebe verschafft sich hier Luft gegen den eigenen schwarzgalligen Überdruss.

Burtons Text trägt durch Wahrhaftigkeit und humorverschmitzten Pessimismus zur Stärkung der seelischen Widerstandskraft bei.

Den Krieg, was Wunder, verabscheut der geistliche Herr, angeregt durch die Friedensappelle des Erasmus von Rotterdam, in ausschweifenden Klagelitaneien als die Geißel Gottes. Besonders übel stößt ihm dabei der sattsam betriebene Heldenkult auf: „Haudegen werden mit Ehrentiteln, öffentlichem Beifall, hohen Belohnungen für ihre Dienste überhäuft, mit Statuen und Bildern geehrt, und es gibt keinen höheren Ruhm, als fürs Vaterland zu sterben“, höhnt er. „Afrikanus wird so von Ennius idolisiert, Mars und Herkules und ich weiß nicht wie viele andere Recken wurden im Altertum vergöttlicht und in den Himmel gehoben, obwohl sie in Wirklichkeit blutige Schlächter waren, verderbte Zerstörer, Quälgeister der Welt, scheußliche Höllenhunde, barbarische Plagen, Allesverschlinger und gemeine Henker der Menschheit.“

In bis damals noch unerreichter Konsequenz dringt Burton in das Arcanum der Schwermut ein. Lange vor Freud identifiziert er sie als „Krankheit der Seele“.

Ursachen der Melancholie

Über das Taedium vitae macht er sich keine Illusionen: „Im Herzen allen Frohsinns, aller Heiterkeit und allen Lachens nisten Sorgen und Kummer, und wenn das wahre Glück einmal unter uns weilt, ist es für kurze Zeit, und der schöne Morgen verwandelt sich in einen düsteren Nachmittag.“ Und dennoch fragt er: „Wo findet man einen Mittelweg? Wie entkommen wir der Versuchung? In welcher Lebenslage sind wir wirklich frei? Die Weisheit geht mit Anstrengung einher, der Ruhm mit Neid; Reichtum und Sorgen, Kinder und Belastungen, Freuden und Krankheit, Ruhe und bittere Armut sind untrennbar.“

Unter den vielen Ursachen der Melancholie nennt er vor allem Mangel an Schlaf, an Liebe, Großmut, Anerkennung, aber auch Argwohn, Angst, Not, Ärger und Existenzsorgen. Besonders erzürnt ihn jegliche Maßlosigkeit in der Lebensgestaltung. Seine Klage über die Völlerei führt ihn zu kernigen Bemerkungen etwa über den Kult mit Köchen, schon weit vor seiner Zeit: „Livius beklagt sich darüber, dass ein Koch früher ein niederer Bediensteter war und nun als gefragte Person von Rang auftritt. Kochen ist zur Kunst und edlen Wissenschaft geworden, Köche gelten als feine Herren, der Bauch als Gott.“

In den oberen Rängen der Gesellschaft ortet er „Ignoranz und Verachtung der Bildung“. Das überträgt sich auf die Jugend: „Unsere Durchschnittsstudenten wissen nur zu genau, dass sich poetische, mathematische und philosophische Studien nicht auszahlen. Deshalb werfen sie sich eiligst auf jene drei einträglichen Disziplinen Jura, Medizin und Theologie, während sie von den anderen Künsten wie Geschichte, Philosophie und Philologie gar keine Notiz nehmen und sie als Spielerei betrachten, die allenfalls bei Tisch für Gesprächsstoff sorgen.“ Und er seufzt: „Die Gewinnsucht verdunkelt die Wissenschaft, und solche Materialisten stehen dann am Ruder des Staatsschiffs und beherrschen den Kronrat. O Herr! O Vaterland!“

Die Dünnhäutigkeit des ins Abseits geschobenen Theologen Burton wird in jenen Passagen offenkundig, in denen er ganz unverblümt seine Lage beklagt: „Weshalb studieren? Was haben sich unsere Eltern dabei gedacht, als sie uns die Gelehrtenlaufbahn einschlagen ließen? Schließlich sind wir nach zwanzig Jahren unermüdlichen Forschens von einem einträglichen Posten noch genauso weit entfernt wie am Anfang.“ Er fühlt sich übergangen, denn: „Es kommen immer nur Angepasste und Opportunisten zu einer Anstellung und zu Pfründen, während wir Theologen an der Universität wie abgemagerte Kälber auf der Weide unsere Zeit vertrödeln.“ Und bitter resümiert er: „Besser man stellt Zahnstocher her und unterlässt den Versuch, sich durch Schriftstellerei die Gunst der Mächtigen zu erwerben.“ Das böse Wort „Hungerleiderexistenz“ fällt hier.

Exemplarische Erkenntnisse

Humor, Erkenntniskraft und Esprit des Buchs wirken dennoch wohltuend. Es ist, als beträte man damit ein wärmendes Palmenhaus, während draußen winterliche Kälte dem Gemüt zusetzt.

Das Fesselnde an Burtons Ausführungen ist, dass es dem Autor immer wieder gelingt, aus seiner eigenen biografischen Erfahrung heraus exemplarische Erkenntnisse abzuleiten. So trägt Burtons „Anatomie der Melancholie“ durch Wahrhaftigkeit und seinen humorverschmitzten Pessimismus zur Stärkung der seelischen Widerstandskraft bei, die man im terminologisch gesteuerten Diskurs heute Resilienz nennt.

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