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Niederländische Charakterköp

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Einer der schönsten Schätze der früheren „Burgundischen Bibliothek“ in Brüssel ist eine zweibändige herrliche lateinische Bibelhandschrift, die durch ihre außerordentliche Sauberkeit, ihre regelmäßige Schrift und die fein ausgeführten Initialen auffällt. Am Ende dieser Handschrift stehen die einfachen, anspruchslosen Worte: „Hec biblia scripta est per manus fratris Thome a Kem-pis“ (diese Bibel wurde von Thomas van Kempen abgeschrieben). Eine ähnliche Unterschrift befindet sich am Schluß einer Nachfolgehandschrift aus dem Jahre 1441, woraus also hervorgeht, daß Thomas sein eigenes Werk, sowie doch allgemein angenommen wird, selbst mindestens einmal ab- geschrieben hat.

Nun ist es eine der unberechenbaren Zu-fälligk eiten in der Literaturgeschichte, daß wir mit Sicherheit wissen, daß Thomas van Kempen diese Bibel und diese Nachfolgehandschrift abgeschrieben hat, daß wir aber andererseits keine absolut sicheren Angaben oder einwandfreien Belege haben, aus denen mit vollständiger Sicherheit zu schließen ist, daß er auch der Verfasser des berühmten Büchleins, der Imitatio Christi, ist. In der kritischen, von J. Pohl besorgten Ausgabe seiner sämtlichen Werke befinden sich Dutzende Opuscula, größere und kleinere Abhandlungen, Betrachtungen. Meditationen und sogar kurze Biographien aus seinem Klosterkreis, von denen einwandfrei feststeht, daß der Windesheimer Chorherr sie verfaßt hat; aber gerade über die kleine, weltberühmte Schrift, die in die Weltliteratur eingegangen ist, die mejjr als 3000 Ausgaben erlebt hat und nach der Bibel das meist übersetzte Buch ist, fehlen solche absolut sichere dokumentarische Belege.

Damit sei aber keinesfalls angedeutet, daß wir die Autorschaft von Thomas bezweifeln! Im Gegenteil: die literarischen Untersuchungen der letzten Dezennien haben in die Verfasserfrage doch schon so viel Licht gebracht, daß man mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit annehmen muß, daß Thomas van Kempen die Nachfolge Christi als Autor geschrieben hat. Alle anderen Kandidaten, ob es sich nun um den berühmten Pariser Universitätskanzler Gerson oder den Italiener Gersen, oder um andere noch unbekanntere „Bewerber“ handelt, haben vor d:m objektiven Urteil der Literaturkritik nicht standhalten können . .. und übriggeblieben ist immer wieder der besehe dene Mönch aus dem Agnietenbergkloster bei Zwolle, der trotz der bewahrten Anonymität als einziger Verfasser angesehen werden muß

Die ganze Welt betrachtet sein Büchlein als ihren Besitz; aber die Niederländer sind stolz zu wissen, daß dieses We,rk auf ihrem Boden entstanden und teilweise von ihrem Geist erfüllt ist. Denn obwohl die Imitatio von Weltformat, und gerade deshalb so groß ist, weil sie nicht in nationalen Besonderheiten steckengeblieben ist, so finden sich doch immer wieder Anklänge, Reminiszenzen, Einzelheiten, die einen niederländischen Verfasser vermuten lassen Das Schulbeispiel in dieser Beziehung ist der bekannte Satz: „Si cognoveris totam Bibliam e x t e r i u s“ (wenn du die ganze Bibel aufwendig kennen würdest); das letzte Wort „exterius“ ist so ausgesprochen unlateinisch, und jeder halbwegs bewanderte Latinist hätte den Ausdruck „ex corde“ (par coeur) so greifbar, daß man woh! sagen muß: der Verfasser steckt mit seinem Wortschatz und seinem Sprachgefühl noch ganz tief im mittelniederländischen („van buiten“), beziehungsweise germanischen („auswendig“) Sprachkreis.

Dieses und ähnliche Beispiele, gestützt von neuen Handschriftenfunden, haben den bekannten niederländischen Sprachforscher Jac. van Ginneken zu der Auffassung gebracht, daß die Nachfolge ursprünglich nicht lateinisch, sondern ia der mittelniederländischen Volkssprache verfaßt ist, und daß diese erste ursprüngliche Fassung auch nicht von Thomas herrühren soll, sondern von seinem Lehrer und dem Begründer der „Devotio moderna“, Geert Groote, währenddem Thomas selbst allein aufscheint* als derjenige, der den mittelniederländischen Text übersetzt und in eine einheitliche Fassung redigiert haben soll.

Es ist hier nicht der Ort, diesen bestimmt sehr interessanten Versuch auf seine Richtigkeit zu prüfen; soviel ist sicher, daß die Gründe für diese neue Erklärung (die sogenannten „Neerlandismen“) auch darin gefunden werden können, daß der lateinische Verfasser öfter in niederländischen Spfachformen gedacht und geschrieben hat. Andererseits aber ist der lateinische Text, so wie wir ihn kennen, im großen und ganzen so „aus einem Guß“ und so ursprünglich auf uns wirkend, daß man an eine Übersetzung kaum denken kann. Denn das Latein der Imitatio ist so voll Rhythmus, so ausgeglichen, ja der Bau offensichtlich sosehr auf Ebenmaß und oft auf Reim (Assonanz) abgestimmt, daß man diese Fassung als die ursprüngliche anzunehmen gezwungen ist. Hingegen wirkt der mittelniederländische Text, der auch in vielen Handschriften vorgefunden wird, geradezu steif und stümperhaft; zum Beispiel: Haec est altissima et utilissima lectio: sui ipsius vera cognitio et despectio. Dit is de alre overste ende oerberlicste les: warachtich bekennis ende versmadenisse

Aber sogar in van Ginnckens neuester Erklärung bleibt die Nachfolge ein Werk von niederländischem Boden, mit oft ausgesprochenem niederländischem Geist. Das Werk ist durchtränkt von einer Stimmung, die man kaum irgendwo anders als gerade in den Niederlanden antreffen wird. Es spricht da ein Mann, der nicht laut und geladen wie ein Savonarola, nicht bildreich wie der heilige Franziskus, nicht visionär wie Katharina von Siena. nicht scholastisch wie Thomas von Aquino in seinen Hymnen und Liedern das Wort an uns richtet, sondern der ruhig, bedachtsam, beschaulich, fast flüsternd sich mit uns über die höchsten Werte unterhält, wie das Säuseln eines sanften Abendwindes in den spärlichen Pappeln einer holländischen Landschaft oder wie das Murmeln eines kleinen Bächleins, so wie er es oft im Ysseltal gehört haben mag.

Der Geist dieses Büchleins aber ist es, der nicht an Zeit und Raum gebunden war, wodurch es sich seinen ersten Platz in der Weltliteratur versichert hat. Es wurde empfangen und geboren n jenem Kreis der innerkirchlichen Reformation, der „Devotio moderna“, deren Vater Geert Grote war, Aber im Gegensatz zu seinem Lehrer, dessen nunmehr vergessene, aber doch bedeutende Schriften großenteils „g e g e n“ etwas gerichtet waren (zum Beispiel „contra focaristas“ oder „contra turrim trajectensem“), hat Thomas sich nicht in tosenden und lauten Invektiven gegen die kirchlichen Mißbräuche seiner Zeit verloren, sondern er hat den positiven Aufbau eines neuen, evangelischen Geistes angestrebt, und hat als einer der ersten „Bibelhumanisten“ (ohne übrigens auch nur eine Spur von Humanismus zu zeigen!) den Geist seiner Leser zurückgelenkt auf den wesentlichen Inhalt des Christentums: auf die Nachfolge Christi. Ohne die Bedeutung zum Beispiel der Scholastik im Geistesleben der Kirche abstreiten zu wollen, war er der Meinung, daß für seine Zeit nur noch ein Mittel die Menschheit vor dem geistigen Untergang retten konnte: die Rückkehr zum unverfälschten, reinen Evangelium.

Es ist deshalb nicht zu verwundern, daß die Nachfolge ein wunderbares Mosaik von Bibelzitaten geworden ist, wobei gerade die Tatsache zu betonen ist, daß es kein Zitatenschatz geworden ist, sondern seine eigene Note bewahrt hat. Denn auch hier kam es auf den Geist an! Sagt er nicht selbst: „Auch wenn du die ganze Bibel auswendig kennen würdest, es würde dir nichts mutzen?“ Denn nicht Kenntnis allein bringt den Menschen zu seinem hohen Ziel, sondern die innere Umgestaltung, die wirklich durchgeführte Nachfolge Christi.

Es ist bemerkenswert, daß gerade dieses Büchlein, das so offensichtlich von seinen Vorgängern befruchtet wurde, das neben der Bibel vor allem von dem heiligen Bernhard von Clairveaux, vom heiligen Bonaventura und Johann von Tannbach inspiriert wurde, diesen ersten Platz in der Erbauungsliteratur erhalten hat. Denn genauer betrachtet ist der Ton dieser Zwiegespräche so gedämpft und auf „sordino“ abgestimmt, daß ein anderer holländischer Forscher, B. Kruitwagen, den Verfasser nicht ohne Grund einen der größten Pessimisten genannt hat. Hier spricht nämlich nicht so sehr die innerlich bejahende, frohe Mystik eines heiligen Bernhards, nicht das Frohlocken seiner beschwingten Zeit- und Geistgenossen Seuse oder Tauler, sondern hier hat ein Niederländer das Wort ergriffen, der vorsichtig und bedachtsam fortschreitet und ans den eigenen bitteren Erfahrungen seine Lebenslehre aufbaut. Auch er weiß um die schwindelnden Höhen, wozu die göttliche Gnade die Seele führen kann, aber als vorsichtiger, berechnender, oft enttäuschter Mensch nimmt er den sicheren Weg. Er traut sich fast nicht die Leser mitzuführen in die höheren Regionen der mystischen Vereinigung (es sei denn im 4. Buch, wo er diese mit dem Altarsakrament in Verbindung bringt), sondern immer wieder lenkt er das Auge des Lesers zurück auf die Schwäche des Menschen, was vor allem im 1. Buch über die innere Reinigung der Fall ist. Aber auch wenn er in den folgenden Büchern mehr positir fortschreitet und seinem Schüler den Weg zur inneren Erleuchtung zeigt, auch dann spielen immer wieder die schwermütigen Motive über die Schwäche des Menschen in seinen Betrachtungen mit... man möchte fast sagen: als nüchterner Holländer faßte er seine Lehre nicht in himmelerobernden Visionen, sondern in einem einfachen praktischen Satz zusammen: „Reinige dein Herz und folge Christum nach.“

Man soll zwar nicht meinen, daß der Holländer für das Höhere keinen Sinn hat. Im Gegenteil: neben dem praktischen Thomas van Kempen und seinem Kreis der modernen Devoten haben die Niederlande auch einen Ruusbroec und einen Gerlach Peters zu verzeichnen, die als mystische Schriftsteller oft die Höhen eines Seuse erreichen ... aber trotz allem und bei aller Anerkennung der höchsten mystischen Erlebnisse und Lehren hat nicht nur der praktische, vorsichtige Geist der Holländer, sondern auch die Erfahrung einer ganzen Welt das Endurteil gesprochen, da doch aus der ganzen Erbauungsliteratur gerade diese anonyme Schrift die größte Verbreitung gefunden hat.

Mehr als 400 Jahre sind über dieses Büchlein hinweggegangen; es hat die Reformation und die Gegenreformation überstanden. Werke, die ihrem Zeitgeist vorübergehend mehr entiprochen haben, wie zum Beispiel die „Einleitung in das devote Leben“ von Franz von Sales oder die Schriften des berühmten Oratorianers de Berulle, haben es vielleicht zeitweise ein wenig zur Seite schieben können aber es hat dies alles und auch den Deismus, die Aufklärung, ja sogar den Positivismus“ überstanden, denn immer wieder ist es diese bescheidene, unauffällige schlichte Schrift gewesen, die den hungernden Seelen das Lebensbrot gegeben hat.

Und gerade für unsere Zeit, die sosehr alles Geistigen und Höheren bar geworden ist, die keine Richtung und keine Linie mehr hat, die kein Auge mehr zu haben scheint für das Göttliche, weil sogar das menschliche Empfinden so unmenschlich geschändet wurde — gerade in unserer an materiellen und vor allem geistigen Enttäuschungen so reichen Zeit wäre dieses kleine Buch eine Rettung: zurück zur Nachfolge Christi!

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