Pierre Loti: Melancholischer Weltreisender
Er war einer der meistgelesenen Autoren seiner Zeit – und sein Leben war Theater und Verkleidung: zum 100. Todestag des französischen Autors Pierre Loti.
Er war einer der meistgelesenen Autoren seiner Zeit – und sein Leben war Theater und Verkleidung: zum 100. Todestag des französischen Autors Pierre Loti.
Auf halber Höhe der französischen Westküste, nur 20 Kilometer vom Atlantik und der Charente-Mündung entfernt, wurde 1666 Europas größtes Marinearsenal aus dem Boden gestampft. Und um dieses herum die Rasterstadt Rochefort-sur-Mer. Der Sonnenkönig baute seine Seemacht aus, die Atlantikküste bedurfte eines gesicherten Marinestützpunkts. Eine hier 1816 gestartete Senegal-Expedition gelangte zu traurigem Ruhm: mit dem Schiffbruch der Fregatte Méduse.
Am 14. Jänner 1850 wird in Rochefort Julien Viaud geboren. Der Großvater Marineoffizier, ein Onkel unter den Überlebenden der Méduse, der Bruder Marinearzt. Der Vater ist leitender Finanzbeamter in Rochefort. Zu Unrecht wegen Unterschlagung verhaftet, stirbt er als gebrochener, verarmter Mann. Nachzügler Julien (die Schwester ist um 19, der Bruder um 14 Jahre älter) wächst als exzessiv behütetes Kind in gedämpft-bourgeoiser Atmosphäre und hugenottischer Strenge auf. Großmutter, Tanten, Mutter und Schwester schirmen ihn gegen die Außenwelt ab.
Fernweh und Aufbruch
Noch spielt der Benjamin Puppentheater oder sucht die verrinnende Zeit in seinem „Museum“ zu bannen, einer Wunderkammer aus Spielsachen, exotischen Souvenirs und anderen Erinnerungsstücken. Doch schon dürstet es den Jungen nach Aufbruch. Briefe des Bruders und Reisebücher fachen sein Fernweh an. Vergessen sind die ersten Berufsziele Pastor und Missionar, Julien Viaud absolviert die renommierte Marineschule in Brest.
Als Marineoffizier wird er die Weltmeere befahren – und als Pierre Loti in die Literaturgeschichte eingehen. Den klingenden Namen bekommt er in Tahiti, wo „Loti“ eine Tropenblume bezeichnet. Polynesien, Indochina, China und Japan, Marokko und Ägypten, Persien und die Türkei bilden die Schauplätze für seine Romane, desgleichen die archaischen Ränder seiner Heimat, die Bretagne und das Baskenland.
1879 erscheint sein Romanerstling „Aziyadé“ im Pariser Verlag Calmann Lévy, anonym. Der Naturalismus gibt damals den literarischen Ton an, doch Loti negiert den gängigen Stil (zwölf Jahre später wird er Émile Zola auf dem Weg in die Académie Française ausstechen). Viel Autobiografie, exotische Szenerien, kunstvolle Naturbilder, etwas Melodramatik und ein melancholischer Grundton prägen das Romanwerk des Autors aus der Charente-Maritime. Wie eine Reihe prominenter Zunftgenossen – Chateaubriand, Nerval, Hugo, Gautier, Flaubert oder Mérimée – gerät Loti in den Bann der mystisch-erotischen Verheißungen des Orients; seine Turkophilie füllt Bände.
40 Jahre bei der Marine führen Julien Viaud an Kriegsschauplätze, in umkämpfte Kolonialgebiete und in bröckelnde Großreiche. Seine Eindrücke hält er auch in Zeichnungen, Reiseberichten und kritischen Artikeln fest. Er geißelt die westliche Einflussnahme auf ferne Kulturen, verteidigt die „osmanische Sache“ („Türkei in Agonie“) oder verurteilt, nach seiner Teilnahme an der Tonkin-Kampagne, die Grausamkeit französischer Soldaten in Annam. Das bringt ihm eine vorübergehende Versetzung nach Rochefort ein.
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