Poetry Slam: Literatur als Performance

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Diesen Samstag findet in Wien ein großer Poetry Slam statt - ein freies, schräges Wettlesen. Soziohistorische Überlegungen zu einem literarischen Megaevent der anderen Art.

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Diesen Samstag findet in Wien ein großer Poetry Slam statt - ein freies, schräges Wettlesen. Soziohistorische Überlegungen zu einem literarischen Megaevent der anderen Art.

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"Am 16. Juni 2012 findet im Wiener Lustspielhaus Österreichs größter internationaler Poetry Slam aller Zeiten statt. Eine Auswahl der besten DichterInnen aus Österreich, Deutschland und der Schweiz werden an diesem Abend in der Arena des renommierten Wiener Lustspielhauses um den Sieg und die Gunst des Publikums kämpfen […] Durch den Abend führen die Slam-Mama und der Slam-Papa der Österreichischen Poetry Slam Szene: Mieze Medusa & Markus Köhle.“ So heißt es im Pressetext, und der Jargon des Superlativs gehört hier einfach dazu. Dass Adi Hirschals Wiener Lustspielhaus heuer wieder am Hof gastiert, wo es 2004 startete, passt mit der Tradition des Platzes als Ort der Gaukler und Schausteller gut zusammen.

Als Phänomen ist Poetry Slam Teil des veränderten Images von Literatur, vor allem was Publikumsnähe und Eventfähigkeit betrifft. Begonnen hat es damit, dass Verlage für Buchpräsentationen - die mittlerweile gern Buchpremieren heißen - das Fangseil trendige Location entdeckten; dann kam das überraschende Revival der Dichterlesung, die, wie das Interview, dem Bedürfnis nach Gesten der Authentizität entgegenkommt, das gerne in Phasen gesellschaftspolitischer Verunsicherung auftritt. Für einen ersten Höhepunkt der Autorenlesung sorgten in der Romantik Performancekünstler wie Ludwig Tieck oder Friedrich Daniel Schubart. Es war die Zeit der Napoleonischen Kriege; im Abwehrkampf gegen den Usurpator und damit auch gegen die Reste der politischen Öffnung durch die Französische Revolution verwirrten sich für die Zeitgenossen die politischen Begriffe von rechts und links vielleicht in ähnlicher Weise wie heute seit dem Fall der Berliner Mauer.

Verzicht auf Unterscheidung von E und U

Dazu kommt, dass sich die Literatur aktuell im dicht bespielten Feld kultureller Angebote behaupten muss. Deshalb haben zu Beginn des neuen Jahrtausends einige Literaturhäuser des deutschsprachigen Raums einen Preis ins Leben gerufen - nicht für Literatur, sondern für ihre Performance. Die Sieger erhalten als "Preisgeld“ eine Lesetournee durch die beteiligten Häuser, deren Säle sich damit gut füllen lassen. Die wachsende Zahl gut gemanagter Literaturfestivals und Preisrituale bedeutet auch, dass sich die Kulturressorts zunehmend auf Berichte über tagesaktuelle Ereignisse orientieren, Veranstalter wie Medien sind interessiert an gut etablierten Events - sie stoßen allenfalls mengenmäßig zunehmend an ihre Grenzen. Auch die Literatur selbst versucht nach Kräften im breiter gewordenen Segment, das entgegen allen Unkenrufen vom Ende der Lesekultur lebendiger scheint denn je, die Leser "abzuholen“, zum Beispiel mit Krimis. Freilich haben glattere Erzähloberflächen beim Publikum immer schon leichter reüssiert, aber mit dem programmatischen Verzicht auf die Unterscheidung von E und U ist auch ihre Akzeptanz bei der Kritik größer geworden.

Fremdscham ist kein Thema

Poetry Slam aber ist ein ganz neues Format, das aus der Präsentation selbst kommt. Damit schuf sich eine junge Generation zunächst parallele Strukturen mit der in den Containerformaten eingeübten Bewertungsinstanz Publikumsakklamation. Die vorgegebene Kürze der Texte - die Zeitlimits von wenigen Minuten werden streng exekutiert - und die Schnelligkeit des Geschehens verleihen ihnen etwas Frisches, das in der Sekundärverwertung der Events fehlt. In Best-of-Poetry-Slam-Bänden publiziert, wirkt das "performte Wort“ zwangsweise amputiert. Selbst beigegebene CDs befriedigen nicht wirklich, keineswegs nur, weil die Mitschnitte technisch zu wünschen übrig lassen, sie können einfach die Lebendigkeit des Abends nicht recht vermitteln. Hier ist ein zentraler Akteur das Publikum, das amikal anfeuert, bereitwillig für akustische Pop-Konzert-Atmosphäre sorgt und Hängern, Peinlichkeiten oder Fadesse oft mit viel Toleranz begegnet, Fremdscham ist in diesem Kontext kein Thema.

Erlaubt ist alles, was gefällt, genremäßig - Lyrik, Lieder, Prosapiecen, Dramolette - wie thematisch. Besonders beliebt sind urban life und legends, Beziehungsfragen und andere Alltagsgeschichten, je nach Talent und Charakter gewürzt mit tagesaktuellen Schlenkern, Sprach- und Assoziationsspielen. Dass die Slammerinnen und Slammer dabei literarische Traditionen oft bewusst ausblenden oder einfach ignorieren, ist ihr gutes Recht. Und bei aller Unbekümmertheit um grammatische oder thematische Kohärenz zeigen auch die gedruckten Texte, wie sich jede Generation die spielerischen Potenziale der Sprache neu erarbeiten muss.

Mittlerweile ist die Szene längst aus dem Off in etablierte Räume übersiedelt und in die Maschinerie des Betriebs eingegliedert. Was als beinahe anarchische Initiative in sympathisch improvisierten Ambientes begann, hat wohlgeheizte Räumlichkeiten mit bereitgestellten Erfrischungen durchaus schätzen gelernt. Das ist verständlich, aber auch ein bisschen schade. Es gibt eigentlich keinen Ort mehr, der diesen Events nicht willig seine Pforten öffnen würde, selbst das Burgtheater; auch wenn sich der Andrang mit einem Auftritt der "Toten Hosen“ vielleicht nicht ganz zu messen vermag, die Beliebtheit des Formats garantiert regen Zustrom einer jungen Klientel, die sonst den Weg in die heiligen Hallen vielleicht nicht findet. Die Aktivisten am Podium mögen mitunter aus sehr unterschiedlichen Milieus und Altersklassen kommen - Idee wie Szene-Masterminds aber haben mit einem Generationenphänomen zu tun: Es sind die Kinder jener aktuell viel gescholtenen Nach-68er-Eltern, die dafür gesorgt haben, dass das Konzept der schwarzen Pädagogik verschwunden ist. Prinzipiell standen in Elternhäusern wie Schulen erstmals Lob und Anerkennung ganz oben auf dem Spielplan und nicht primär Strafe, Disziplin und Demotivierung. Daraus entsteht eine gute Grundausstattung für selbstbewusstes Performing.

Ein Reclam-Heft als Nonplusultra

Die Rituale haben sich mittlerweile professionalisiert, und sie sahen von Anfang an eine überraschende Hierarchisierung vor, was auch schon zu internen Verwerfungen in der "Chefetage“ der Szene geführt haben soll. "King & Queen der Wiener Poetry-Slam-Szene“ ist mittlerweile jedenfalls eine gängige Bezeichnung für die zwei umtriebigsten Szenefiguren: Doris Mitterbacher alias Mieze Medusa, seit acht Jahren Gastgeberin des monatlichen textstrom Poetry Slams in Wien, und Markus Köhle. Beide waren auch beteiligt an der ersten gesamtösterreichischen Meisterschaft. Das Finale wurde 2007, zehn Jahre nach dem deutschen National Poetry Slam, im WUK ausgetragen. Nach einem jahrelangen Vorrundenverfahren, das sich aufgrund der persönlichen Biografien der Organisatoren auf Wien und Innsbruck verteilte, stellten sich hier achtzehn Slammer und sieben Slammerinnen zwischen 17 und 64 Jahren dem I-like-Urteil der etwa 700 Besucher.

Fritz Hochwälder soll 1944 im Schweizer Exil ein eigenes Reclam-Bändchen als Nonplusultra einer literarischen Karriere bezeichnet haben; er hat sein Ziel 1958 erreicht, als "Das heilige Experiment“ in der Universal-Bibliothek erschien. Das hat das neue Genre auch schon geschafft: Seit 2008 gibt es "Slam Poetry für die Sekundarstufe. Texte und Materialien für den Unterricht“.

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