Sabine Gruber: "Literatur darf Widersprüche einarbeiten"

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Sabine Gruber studierte Germanistik, Geschichte und Politikwissenschaft: Diese Interessen prägen auch ihr literarisches Werk. Ein Gespräch über notwendige Preise für Frauen, die Perspektive der Geschichtsschreibung und die Besonderheit der Literatur.

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Sabine Gruber studierte Germanistik, Geschichte und Politikwissenschaft: Diese Interessen prägen auch ihr literarisches Werk. Ein Gespräch über notwendige Preise für Frauen, die Perspektive der Geschichtsschreibung und die Besonderheit der Literatur.

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Im Oktober erhielt die Schriftstellerin Sabine Gruber den Veza-Canetti-Preis der Stadt Wien. Der folgende Text ist ein redigierter Ausschnitt eines in der Österreichischen Gesellschaft für Literatur geführten Gesprächs.

DIE FURCHE: Was bedeutet der Veza-Canetti-Preis für Sie?

Sabine Gruber: Dieser Preis hat mich besonders gefreut, weil er ein Preis für Frauen ist. Dass in der neuen oberösterreichischen Landesregierung keine einzige Frau sitzt, bedeutet im Grunde auch, dass es wieder notwendig ist und sein wird, sich dezidiert für Frauen einzusetzen. Der Veza-Canetti-Preis stärkt Frauen. Kennt man die Hintergründe, ist er noch erfreulicher: Denn Veza Canetti hat ihre Karriere zurückgesteckt, um ihrem Mann zum Ruhm zu verhelfen. Es gibt einen Brief von Elias Canetti aus dem Jahr 1963, in dem er seinem Schriftstellerfreund Hermann Kesten verrät, dass seine Frau jeden Satz und jeden Gedanken von "Masse und Macht" mitgedacht und mitgeschrieben hat. Das heißt, dieses Werk ist ohne sie nicht denkbar. Er hat den Nobelpreis bekommen, sie ist leer ausgegangen.

DIE FURCHE: Sie finden es richtig ...

Gruber: Und notwendig!

DIE FURCHE: ... dass dieser Preis ausschließlich Frauen zukommt?

Gruber: Wenn man sich die Mühe macht und die Vergabe von Preisen vergleicht, schneiden Männer um vieles besser ab, zum Beispiel sind von 109 österreichischen Staatspreisen bis heute nur elf an Frauen gegangen. Frauen bekommen in der Regel die Preise zehn Jahre später als Männer. Außerdem gibt es eine Altersvorsorge für Schriftsteller und Schriftstellerinnen, die aber gedeckelt ist. Das heißt wenn man in der "Pension" einen Preis erhält, wird die Preissumme gegenverrechnet; es bleibt einem im Grunde nur die Ehre. Deswegen ist es wichtig, dass auch Schriftstellerinnen verstärkt vor der Altersversorgung ausgezeichnet werden, nicht nur Schriftsteller.

DIE FURCHE: In Ihren Romanen gibt es viele starke Frauen. Auch in Ihrem jüngsten Roman "Stillbach oder Die Sehnsucht" fällt auf, dass Geschichte mit Frauenfiguren verknüpft wird. Ist das eine bewusste Entscheidung?

Gruber: Gerade bei "Stillbach oder Die Sehnsucht" war es eine bewusste Entscheidung. Die Hauptfigur Emma gehört einer bildungsfernen Schicht an, sie kommt aus einem bäuerlichen, ärmlichen Umfeld. Mir war es wichtig aufzuzeigen, wie Geschichte von solchen Frauen wahrgenommen wird. Wir kennen Geschichtsschreibung vor allem aus der Perspektive von Historikern. Ich habe versucht, eine Biografie nachzuzeichnen, die im Alltag verhaftet ist. Ich bin da auf große Schwierigkeiten gestoßen, weil es sehr wenig Material gibt, um solche Lebensläufe zu recherchieren. Es gab ja noch viele Analphabetinnen zu dieser Zeit, vor allem in Italien. Ich hatte anfangs die naive Vorstellung, dass sich in Zeitungen Material finden könnte. Ich habe mir dann in Venedig und auch in Rom in diversen Bibliotheken Tageszeitungen von Ende der 30er-, Anfang der 40er-Jahre angesehen und musste feststellen, dass es in faschistischen Blättern eben nicht um die Lebensumstände und das Befinden der Bevölkerung geht, sondern in erster Linie militärische Aufmärsche beschrieben und politische Erfolge herbeigelogen werden. Es war auch sehr viel Werbung abgedruckt, interessanterweise für Schuhcreme, weshalb ich dieses Detail in den Roman eingebaut habe. Glücklicherweise war damals das Buch "Wie die Schwalben flogen sie aus" der drei Südtiroler Historikerinnen Adelina Wallnöfer, Martha Verdorfer und Ursula Lüfter erschienen, ein Buch, das Geschichte in den Lebenserzählungen Südtiroler Dienstmädchen, Haushälterinnen, Köchinnen und Kindermädchen rekonstruiert. Neben anderen Quellen wie Filmen aber auch Belletristik aus der Nachkriegszeit und einigen wenigen Anekdoten meiner Großmutter dienten diese Interviews als Ausgangsmaterial für die Figur der Emma Manente.

DIE FURCHE: Worin sehen Sie den Unterschied zwischen dem, was die Geschichtsschreibung kann und dem, was Literatur vermag? Die sich in diesem Fall ja konkret mit Geschichte beschäftigt und Geschichte erzählen will?

Gruber: Literatur hat den großen Vorteil, dass sie Widersprüche einarbeiten kann. Dazu bedarf es spezieller formaler Kniffe: "Stillbach" besteht aus einem Roman im Roman, also aus einer Rahmengeschichte, die jetzt spielt, und aus einem Manuskript, das aufgefunden wird, welches sich mit dem Jahr 1978 befasst. Also hatte ich auf diese Weise verschiedene Zeitebenen, außerdem habe ich verschiedene Erzählerstimmen eingeführt, auch die Stimme eines Historikers. Ich konnte so von Anfang an widersprüchliche Positionen und verschiedene Auffassungen und Interpretationen von bestimmten Ereignissen einfließen lassen.

Der Historiker Paul sieht als Nachgeborener die faschistische Zeit oder die nationalsozialistische Besatzung in Rom anders als Emma, die als Südtiroler Mädchen erstmals 1939 nach Venedig kommt, dann nach Rom geht und dort als Hausmädchen arbeitet. Sie ist unmittelbar betroffen. Emma merkt, dass andere Hausmädchen nach Südtirol zurückgehen, weil die Eltern fürs Deutsche Reich optiert haben. Sie verlassen mit ihren Familien Italien. Sie hingegen bleibt in Rom, ist aber in der prekären Situation, dass sie, wenn sie auf die Straße geht, aufgrund ihrer Größe und ihres Akzents ab Herbst 1943 von den Römern als "tedesca", als Besatzerin, angesehen wird. Nachdem die Deutschen die ewige Stadt besetzt haben, wird die im Faschismus zwangsitalianisierte Südtirolerin plötzlich wieder zur Deutschen ...

Solche Zuschreibungen bleiben nicht ohne Folgen im Alltag. Das von Hitler und Mussolini getroffene Options-Abkommen - man musste sich 1939 als Südtirolerin entweder für den Verbleib in Italien oder für die Auswanderung ins Deutsche Reich entscheiden -, spielte auch außerhalb Südtirols eine Rolle. Das eigentlich Spannende an einer solchen Romankomposition ist, dass die Leserin und der Leser sich ein eigenes Bild dieser Zeit machen müssen. Sie bekommen nicht die vorgefertigten Fakten und die historischen Erklärungen, sondern anhand von verschiedenen Figuren werden bestimmte historische Ereignisse beleuchtet und man muss sich das Puzzle dann selbst zusammensetzen.

DIE FURCHE: Ist es nicht besonders schwierig, aus so viel Material einen Roman zu verfassen?

Gruber: Bei einer solchen peniblen Recherche - ich habe ein Jahr lang Material gesammelt - ergeben sich irgendwann zwangsläufig Schnittpunkte. Es ist schon eine umfangreiche Lektüre und intensive Beschäftigung notwendig. Ich habe von Anfang an nach den Berührungspunkten zwischen der großen Geschichte der nationalsozialistischen und faschistischen Verbrecher und den kleinen Lebensgeschichten der Südtiroler Dienst-und Hausmädchen gesucht. Erstaunlicherweise sind die Fäden nach minutiöser Recherche plötzlich zusammengelaufen. Aus den Interviews mit Frauen, die in Rom gelebt und gearbeitet haben, erfuhr ich, dass sie sich am Sonntag nach der Messe in der Santa Maria dell'Anima, in der deutschen Nationalkirche, zum Kaffee getroffen haben. Später las ich "Nazis auf der Flucht: Wie Kriegsverbrecher über Italien nach Übersee entkamen" von Gerald Steinacher, ein akribisch recherchiertes Buch, das die einzelnen Fluchtrouten von Massenmördern wie Eichmann und Mengele nachzeichnet. Dort stieß ich auf Bischof Hudal, einen Österreicher, der Rektor der Santa Maria dell' Anima war. Hudal war überzeugter Nazi. Er hat zum Beispiel Franz Stangl, KZ-Kommandant von Sobibor und Treblinka, der für mindestens 400.000 Tote verantwortlich ist, einen vorübergehenden Bibliothekarsjob in der Anima verschafft und ihn dann mit Papieren versehen. Stangl konnte auf diese Weise nach Syrien verschwinden. Solche Naziverbrecher haben sich am selben Ort aufgehalten wie die Dienstmädchen. An diesem Ort traf die große Geschichte plötzlich mit den kleinen Geschichten zusammen. Das sind die eigentlichen Glücksmomente bei der Recherche, aber auch beim Schreiben.

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