Andres - © Foto: picturedesk.com / Ullstein Bild / Horst Tappe

Stefan Andres: Der große Vorrat an Zeit

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Erinnerung an den Erzähler Stefan Andres, der vor 50 Jahren, am 29. Juni 1970, in seiner Wahlheimat Italien gestorben ist.

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Erinnerung an den Erzähler Stefan Andres, der vor 50 Jahren, am 29. Juni 1970, in seiner Wahlheimat Italien gestorben ist.

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Wird es ein Sommer ohne Italien werden in diesem Jahr? Das kann nur ein Sommer der Sehnsucht sein. Verlockend: Neapel, Sorrent, dann die amalfitanische Küste hinab – und dort, kletternd den Felshang hinauf, das Fischer- und Künstlernest Positano.

Man kann den Ort lesend besuchen, ist er doch eng verbunden mit Werk und Namen des deutschen Dichters Stefan ­Andres. In den 1930er Jahren wurde Positano für ihn zum Fluchtort vor dem Meinungs­gefängnis der Nazis. Dem Druck auf Kulturschaffende wich Andres, nicht ohne Armutsgefährdung, nach Süditalien aus, wo er und vor allem seine halbjüdische Frau trotz Mussolini-Diktatur noch einigermaßen unbehelligt leben konnten.

In Positano fand er jenen „großen Vorrat an Zeit“ vor, den er als kennzeichnend für den Küstenort empfand. Hier verfasste er eine Reihe von Romanen und Erzählungen, für die er die ihm vertraute „Treppenstadt“ als Schauplatz wählte. „Terrassen im Licht“ nannte Andres eine Sammlung von Geschichten aus Positano, dem „Städtchen, das vom Meer aufsteigend dem Berg seine Häuserwürfel an die unteren hügelhaften Ausläufer heftet“. Ein archaisches Leben wird vorgestellt, beherrscht von den natürlichen Elementen der Sonne, des Meeres, der Stürme und heißen Wüstenwinde, Schirokko genannt.

Flucht vor der Vergangenheit

Im eng begrenzten gesellschaftlichen Biotop des beschaulichen Fischernests gediehen für den Erzähler Gewächse der unterschiedlichsten Art. In der Dorfschenke hat er sie meist versammelt: Handwerker, Fischer, Wein- und Gemüsebauern, Fischhändler, uniformierte Carabinieri. In einer der markantesten Erzählungen, „Die beiden Pharaonen“, bringt ein lautstark als Herrenmensch auftretender Deutscher vor­übergehend die alteingesessene Ordnung durcheinander. Er lässt die stehen gebliebene Turmuhr des Campanile reparieren und legt sich mit dem selbstherrlichen Dorfwirt Giovanni an, der eine Machtposition als Mafioso des Orts zu verteidigen hat. Höchst vergnüglich lässt sich miterleben, wie da zwei Kampfhähne mit Manneskraft und Männerstolz einen Revierstreit ausfechten, der bis zum Äußersten gerät.

Schon mit seinem ersten Roman, „Der Mann von Asteri“, war Andres 1939 ganz in die Mittelmeerwelt eingetaucht – und in das Thema der Flucht vor der Vergangenheit, das ihn noch mehrfach beschäftigte. Diese Flucht führt den Besitzer eines Weinguts an der Mosel zuerst nach ­Italien, in das „Città morta“ genannte Positano, und von dort weiter nach Griechenland: Die ­Furien einer ungeklärten Schuld sind ihm auf den Fersen, bis sein verleugneter Nachkomme die verworrene Vita des Vaters zurechtrückt. Bereits in dem Roman­erstling erweist sich der Autor als ein Erzähler voll subtiler Menschenkunde und zupackender, bildkräftiger Beschreibungskunst.

Ursprünglich hatte Andres, der 1906 geborene Müllerssohn aus dem Moselland, Priester werden wollen. Er besuchte ­eine Klosterschule, verließ aber als 19-Jähriger noch vor Beendigung des Noviziats die Mauern der Geistlichkeit und wandte sich dem Studium der Germanistik sowie Theaterwissenschaft zu. In der frühen Erzählung „Bruder Lucifer“ setzte er sich mit seinen Klostererfahrungen auseinander. Und in dem erzählseligen Erinnerungsband „Der Knabe im Brunnen“ kehrte er ­später in großen autobiografischen Bögen – „Aquädukte der Erinnerung“ nennt er sie – in seine Kindheits- und Jugendwelt zurück.

Gräber in den Augen der Macht

Berühmt wurde der Dichter Stefan Andres­ durch zwei noch in der Nazizeit erschienene Erzählstücke, die als Wider­stands­literatur gelesen wurden. In der Novelle „El Greco malt den Großinquisitor“ fertigt der größte Maler seiner Epoche­ in Spanien, der Kreter El Greco, just am Scheitelpunkt der sogenannten „Heiligen­ Inqui­sition“ ein alarmierendes Porträt des Großmeisters der Glaubensverfolgung, ­des Kardinals Niño de ­Guevara, an. Wortgewaltig, in scharfen Bildeindrücken und gehaltvollen Dialogen wird hier der elementare Konflikt zwischen Unterdrückung und Freiheitsbeharren verhandelt. In ­schwerem innerem Ringen entscheidet sich der Arzt Cazalla angesichts des kranken Kardinal­inquisitors, den gefürchteten Glaubens­tyrannen nicht zu ­töten, sondern gemäß seinem Eid als Mediziner zu heilen.

Unabhängig von dieser Gewissensthema­tik beeindruckt die sprachliche ­Erfassung von El Grecos Malkunst, die sich in der sinnlichen Nachempfindung der ­Eindrücke des Künstlers ausdrückt: „Vielerlei Tiere sind in der Menschen Augen wie in den Käfigen der Tierzwinger; da geht es mannigfaltig um von Gier, List, Trägheit und Blutrausch, meist jedoch ungefährlich und durch Sitte und Angst vergittert. Gefährlich aber sind Ninos Augen. Wie im kühlen Dunkel der Krypta ist da alles unbewegt und ineinander [...] Es sind Gräber in diesen Augen.“ Die bereits 1936 verfasste und auch veröffentlichte Novelle warf mitten im NS-Staat ein Schlaglicht auf den unerbittlichen Vernichtungswillen, der in einem totalitären Machtsystem um sich greift.

Auch die im Krieg, 1942, niedergeschriebene Novelle „Wir sind Utopia“ kreist um die „Blankovollmacht“, die Gott dem Menschen mit der Freiheit, selbstständig zu handeln, eingeräumt hat. Hier sieht sich ein ehemaliger Priester, der im Spanischen ­Bürgerkrieg ­interniert wird, durch Zufall in die Lage versetzt, den Anführer einer mörderischen Soldateska, die das Land heimsucht, ermorden zu können, statt ihm wie befohlen die Beichte abzunehmen. Auch hier fällt die Gewissensentscheidung zugunsten von „Utopia“ aus: der friedfertigen, weiterweisenden Botschaft des Evangeliums.

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