Untiefe - © Wolfgang Schwens

Thomas Stangl: Ist das Schlamm? Oder lebt das?

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Untiefe bedeutet das Gegenteil von Tiefe, also Seichtheit; dennoch scheint eine Untiefe gefährlicher als jede Tiefe. Schriftsteller Thomas Stangl über Abgründe, Seichtigkeit – und die Literatur.

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Untiefe bedeutet das Gegenteil von Tiefe, also Seichtheit; dennoch scheint eine Untiefe gefährlicher als jede Tiefe. Schriftsteller Thomas Stangl über Abgründe, Seichtigkeit – und die Literatur.

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Als Kind hat mich das Wort Untiefe (ein Wort aus den Büchern, nicht aus meinem wirklichen Leben) immer irritiert. Es bedeutet das Gegenteil von Tiefe, also Seichtheit; dennoch schien eine Untiefe gefährlicher als jede Tiefe. Gleichzeitig konnte das Wort auch tiefer als tief bedeuten. So wie eine Unzahl etwas gar nicht mehr Zählbares evoziert, so evoziert die Untiefe einen gar nicht mehr messbaren Abgrund. Der Abgrund und die Seichtigkeit berühren einander.

Wenn die Schiffe, die durch meine Bücher segelten, auf Untiefen stießen, drohten sie zu kentern, aber ich begriff nicht genau warum. Liefen sie auf Grund oder wurden sie in einen endlosen Abgrund gezogen?

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Dieses Schillern, diese Berührung von Gegensätzen im Innern eines einzigen Wortes hatte etwas Beunruhigendes für mich. Heute führt es dazu, dass die Untiefe (nicht nur für mich) einen viel besseren Klang hat als ihre schlichte und doch aufgeblasene Verwandte, die Tiefe. Man hat die Ahnung, dass ein winziger Nadelstich ausreicht, um die Luft aus dem auszulassen, was tief erscheinen möchte.

Ich erinnere mich, wie einmal in einer Fernsehdiskussion eine Literaturkritikerin versuchte, ihre Faszination für ein sogenanntes schwieriges Buch zu vermitteln. Der Moderator (der das Buch nicht gelesen hatte) unterbrach sie, sagte mit ironischem Tonfall „tief“ und von da an war gleichgültig, was die Kritikerin noch für Argumente haben mochte. Das machte mich ein wenig unglücklich, denn es ging um ein Buch von mir. Dennoch, die Skepsis gegenüber der Idee, Kunst habe „tief“ zu sein, ist berechtigt.

Gefährliches Pathos des Tiefgründigen

Man denke an die Generationen von deutschen Denkern, die sich am Wahn berauschten, sie wären schon dank ihrer Geburt (ihres „Blutes“) oder ihrer Sprache mit einer „tieferen Geistigkeit“ gesegnet als ihre oberflächlich-geistreichen und bloß vernünftigen französischen („welschen“) oder angelsächsischen Feinde und Kollegen.

Den großen Wörtern, dem Pathos des Tiefgründigen, Abgründigen, Ewigen zu verfallen ist gefährlich; und nur selten deshalb, weil man sich Erkenntnissen nähert, deren Finsternis oder Gewicht nicht zu ertragen ist, viel öfter droht das Abrutschen in den Kitsch. Sogar dann, wenn die Gefühle, die man ausdrückt, echt sind; die Gedanken, die man aufschreibt, ehrlich.

Wenn ich Dinge direkt und ernsthaft sage, werden sie sofort peinlich, falsch und missverständlich. Ich muss das Ruder ein klein wenig verschieben, den Klippen und dem Sog der Tiefe ausweichen, mich scheinbar vom Kurs entfernen. „Scham sträubt sich dagegen, metaphysische Intentionen unmittelbar auszudrücken; wagte man es, so wäre man dem jubelnden Missverständnis preisgegeben.“ (Theodor W. Adorno)

Man sammelt auf den kleinen Abwegen seiner Sätze Erkenntnisse oder einfach Bilder auf; in jeder und jedem zeigt sich eine Facette des Wirklichen, ein Hauch von Sinn; und umkreist währenddessen die Untiefen, wo die Wahrheiten lauern und sich auflösen. Man kommt dabei immer wieder ins Stolpern, zugegeben, aber das gehört dazu, das ist wichtig.

Es ist nicht selten, dass eine Wahrheit, ausgesprochen, sich sofort in eine Banalität verwandelt; während sie, solang man ihr stolpernd ausweicht, eine Wahrheit bleibt.

Aber schon die Untiefe selbst verleiht der Tiefe eine kleine sprachliche Zuckung; zur pathetischen Beschwörung kommt eine Verunsicherung hinzu. Wie das Wort in seiner Bedeutung schwankt, so unterschiedlich sind seine Wirkungen. Manchmal steigert sich die Verunsicherung und verhilft zu einem – ästhetischen oder existentiellen – Schock (der ersehnten und gefürchteten Grenzüberschreitung); manchmal mündet sie in purer Lächerlichkeit, dazwischen liegt ein schmaler Grat.

Man hat die Ahnung, dass ein winziger Nadelstich ausreicht, um die Luft aus dem auszulassen, was tief erscheinen möchte.

Sagt man etwas, das tiefgründig klingt, und schafft es dabei trotz allem, sich ernst zu nehmen, dann nicken die Zuhörer, verstehen wenig und vergessen sofort, was man gesagt hat. Aber über jede beiläufige, harmlos gemeinte Bemerkung kann man stolpern, weil jeder merkt, welche Untiefen sich darin verbergen, jeder außer einem selbst, und man ist verloren. Oder es gelingt einem in der Beiläufigkeit, ausweichend, etwas zu sagen, ohne es zu sagen; etwas zu zeigen, das man nicht aussprechen muss, nicht aussprechen sollte – oder nicht aussprechen kann.

Das ist natürlich eine gefährliche – tiefgründige – Behauptung. Was wäre es, das man nicht aussprechen kann oder soll? Die Idee, dass tief unten im Verborgenen etwas ganz Anderes, Geheimnisvolles – womöglich das Eigentliche – zu finden wäre und nicht dasselbe Gerümpel wie überall, ist – sozusagen – tief verwurzelt. Und man hat gelernt, diese Tiefe – in ihrer ganzen dunklen Fremdheit – zunächst im eigenen Inneren zu suchen: im Schachte des Gedächtnisses oder der Krypta des Unbewussten; und wirklich, man kann nicht wissen, was man hier alles vorfindet.

Das Eigentliche? Den Wahnsinn? Eher eine Verschiebung; das Licht ist anders, es muss gar nicht so besonders tief hinab in die Tiefe gehen, um dieses andere Licht vorzufinden, in den Keller oder die Krypta sind es nur ein paar Stufen; wichtig ist die Grenzüberschreitung. Das Dunkel oder das andere Licht. Und diese seltsame Konsistenz des Bodens hier (ist das Schlamm? Oder lebt das?).

Die Anziehungskraft dieser Räume ist gleichermaßen eine Herausforderung zur Aufklärung und zur Zerstörung. Hegel spricht von der „Macht des Ichs über das im Schachte seines Innern Schlafende“ und Freud davon, dass Ich werden soll, wo Es war. Das Licht der Vernunft durchdringt die Geheimnisse der Tiefe.

Was aber stellt sie dabei damit an? Wie würde ein Mensch aussehen, bei dem alles Ich geworden ist, was Es war? Wäre er zu ertragen oder würde er sich in eine Art Maschine verwandeln oder in einen Hort trostloser Banalitäten?

Oder aber die Macht des Ich stößt an Grenzen, und diese Grenzen bleiben sichtbar: Was aus dem Schachte hervorgeholt wurde und gesagt, gezeigt und ausgesprochen werden kann, ist zu etwas anderem geworden als dem bloß Erlebten. Es hat seine nicht ganz eindeutigen Beziehungen zum Untergrund bewahrt; etwas vom anderen Licht oder vom Dunkel ist daran hängengeblieben; etwas vom schlammigen Boden (oder lebt das?).

Das Uneindeutige

Das Uneindeutige, dieses Spiel von Beziehungen zwischen dem Oberflächlichen und dem Verborgenen, zwischen Zeichen und Gegenstand, bewusstem Plan und bloßem Wirklichen lässt keine vollkommene Transparenz, keine totale Macht des Ichs zu. Räume für Heimliches und Unheimliches entstehen; es wohnt noch den Karten inne, die Ordnung und Übersichtlichkeit schaffen sollen: Auf Captain Ahabs Stirn und Wangen (so meint der beobachtende Ishmail) erscheint, während er die Strömungen und Untiefen der Ozeane in immer neuen Karten verzeichnet, eine eigene Landkarte der Falten und Fältchen, als gäbe es eine Entsprechung zwischen dem wahnsinnigen Geist des alten Mannes und dem Meer, das er durchsegelt. Und körperliche Zeichen, in denen diese Entsprechung sichtbar wird.

In den letzten Tagen seines Lebens, als er nicht mehr reden konnte, verständigte sich Franz Kafka durch Notizen auf Gesprächsblättern mit seinen Freunden. Auf einem der Blätter steht: „Unendlich viel Auswurf, leicht und am Morgen doch Schmerzen, im Rausch ging mir durch den Kopf, dass für diese Mengen und diese Leichtigkeit irgendwie der Nobelpreis“. Ein Satz ohne Ende und ohne Punkt, vom Rand des Bewusstseins her geschrieben, mit der zarten Ironie eines Sterben­den – doch zugleich passt diese absichtslose Rausch- und Halbschlafvision schwindelerregend genau zu Kafka und seinem Schreiben, das so eng an seinen Körper, an den Moment, die Geste gebunden ist.

Vielleicht kann man sagen, dass Literatur – wie die Kafkas oder Melvilles – ein Verfahren ist, Tiefe in Untiefe zu verwandeln.

Die Untiefen des Körpers und die Untiefen des Denkens und der Vorstellungskraft berühren sich, eins ist vom anderen nicht zu trennen. Alles ist tödlich ernst und zugleich ein absurder Witz. Es ist, glaube ich, das einzige Mal in seinen Schriften, dass Kafka den Nobelpreis erwähnt. Den höchsten Preis verdient etwas, das mit Leichtigkeit von selbst geht und nichts bedeutet. Das gefeierte Resultat ist nichts als Auswurf; und in der Leichtigkeit, im Rausch und im Schmerz doch von einer seltsamen Schönheit und Würde.

In der Literatur, die sich den Untiefen stellt – oder aus ihnen hervorquillt –, sind das Ekelhafte und die Lust an der Sprache und ihrer unbeherrschbaren Überraschungs- und Erkenntniskraft nicht voneinander zu trennen.

Vielleicht kann man sagen, dass Literatur – wie die Kafkas oder Melvilles – ein Verfahren ist, Tiefe in Untiefe zu verwandeln. Das Bedeutsame aus der Bahn zu werfen.

Sie hält die Verbindung zu den Untiefen im Innern des Subjekts, im Innern des Körpers und seiner Empfindungen, und zu den Untiefen im Innern der Sprache und der Gesellschaft, der Geschichte oder des Seins (was auch immer das Sein sei). Und vor allem in den unklaren Übergangszonen zwischen diesen Bereichen, denn keiner dieser Bereiche ist von den anderen unabhängig. Überall kann man stolpern und stolpernd sprechen.

Farce statt Dämonisierung

Das gilt auch für die Beschäftigung mit der Geschichte. Noch (und gerade) das äußerste Verbrechen ist am wenigsten durch eine in allen Farben ausgemalte Dämonie zu begreifen. Dem Entsetzen in seiner nackten Wirklichkeit stehen außer banaler Bürokratie nur Lächerlichkeit und Idiotie gegenüber. Hitlers „Mein Kampf“ ist das Buch eines dreisten Dummkopfs, nicht das eines Dämons oder Verrückten. Und George Taboris „Mein Kampf“ wird solch einer Figur gerechter als jede Einfühlung und Anverwandlung, die notwendig etwas Falsches und fast Widerliches an sich hat; „große Schauspielkunst“ beispielsweise, wie die von Bruno Ganz ausgestellte, wird nur einen fatalen Eindruck von Größe und Sinn – eines tieferen Sinns – erzeugen.

Wohingegen eine Farce, in der ein ungeschickter und großsprecherischer junger Maler im Obdachlosenheim vom freundlichen jüdischen Nachbarn (der weiß, was geschehen wird) beigebracht bekommt, wie man sich die Schuhe bindet, den Raum fürs Entsetzen offen lässt. Man muss eben freundlich zu ungeschickten jungen Leuten sein, selbst wenn man weiß, was kommen wird. Es gibt keinen Sinn. Die Moral passt nicht zur Moral. Es passt nicht zusammen, das ist die einzige Moral: Das Gute ist falsch, aber notwendig, das tiefste Entsetzen und das flache Leben kleiner sterblicher Menschen stoßen in dieser Untiefe zusammen. Und Gott, das ist ein Obdachloser, der traurige Witze macht.

Dass die Macht des Ich an ihre Grenzen stößt, heißt nicht, dass die Vernunft aufgegeben würde. Sie reicht jedoch nicht aus, um sich freizuschwimmen vom Schlamm und Morast, dem Ekligen. Es haftet einem an, jeder Handlung und jedem harmlosen Satz; allerdings kann man lernen, damit zu spielen. Das Schiff kommt nicht weiter, die Langeweile wird drückend, man schwitzt, hungert und geht sich und den anderen auf die Nerven: und dann passiert es.

Als Kind glaubte ich, es seien die glücklichen Auflösungen, die zählen, und ich las atemlos bis zum Ende weiter. Dann vergaß ich die glücklichen Auflösungen aber alle schnell, und die Hindernisse, die Stauungen und Stockungen, die Verzögerungen, die Leerstellen, die Untiefen sind geblieben.

Oft sind die radikalen Erkenntnisse und die ästhetischen Epiphanien nah an der Oberfläche zu finden, in ganz kleinen Wendungen, beiläufigen Sätzen. Zwei oder drei Zeichen, die eine chinesische Landschaft beschreiben: Eine Landschaft, die ein Gefühl ist, ein Gefühl, das ein Wissen ist, ein Wissen, das eine Landschaft ist, eine Landschaft aus zwei oder drei Zeichen.

Und vielleicht ist das der einzige Trost: Man sinkt hinab und plötzlich ist da nicht mehr nur Tiefe, sondern Untiefe. Es gibt einen Umschlag; dann beginnt etwas anderes. Nur um das zu spiegeln, was man kennt, es zu spiegeln, zu verzerren, vor der Eindeutigkeit und Langeweile zu bewahren.

Um Zeichen zu sein, Sprache, und Sprache ist immer etwas, das nicht ganz zu verstehen ist. Ist das eine Landschaft, ein Gefühl, Wissen, der Wechsel von einem zum anderen? Das Material leistet Widerstand, Wort für Wort, und bringt dabei im besten Fall einen Glanz hervor, sogar (und gerade) wenn Schlamm und Morast an ihm kleben. Die Untiefe macht ratlos. Und die Ratlosigkeit bleibt.

Der Autor lebt als Schriftsteller in Wien. Zuletzt erschienen der Roman „Fremde Verwandtschaften“ und die Erzählungen „Die Geschichte des Körpers“.

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