Toni Morrison über "race": Wie entkommt man diesem Wärter?
Nie habe sie in einer Welt gelebt, in der "race" kein Thema war, schreibt Toni Morrison. Wie damit umgehen als Schreibende, möglichst unbelastet und möglichst verantwortungsbewusst?
Nie habe sie in einer Welt gelebt, in der "race" kein Thema war, schreibt Toni Morrison. Wie damit umgehen als Schreibende, möglichst unbelastet und möglichst verantwortungsbewusst?
Es ist eine Szene, die in Erinnerung bleibt. Die Schriftstellerin Toni Morrison wurde zu einem Fernsehinterview eingeladen und bat darum, ausnahmsweise einmal nicht über race sprechen zu müssen, sondern zum Beispiel über Schreiben, Lektorieren und Unterrichten reden zu dürfen. Ihrem Wunsch wurde entsprochen.
Doch kurz vor der Sendung meinte der Moderator, man könne das nun doch nicht machen, das Thema race wäre viel zu interessant, um es wegzulassen. Toni Morrison kramte also enttäuscht und verärgert und im Wissen, „die Differenz zwischen den Rassen zieht immer“, ihren „Baukasten für die Medienversion eines Dialogs zwischen den Rassen hervor“. Wie das Gespräch anders verlaufen wäre, hätte sich jemand für sie und ihre Arbeit jenseits des Themas race interessiert, blieb ihrer Fantasie überlassen. Es gab dieses Gespräch nicht.
Die Literaturnobelpreisträgerin erzählt diese Episode 2001 in ihrem Essay „Schluss mit alldem“, abgedruckt nun zusammen mit 42 anderen Essays, Vorträgen und Reden im Band „Selbstachtung“. Dieses Buch macht trotz all der unterschiedlichen Themen, die behandelt werden – Kunst, Literatur, Krieg, Faschismus, Erinnerung ... –, genau das sichtbar: das ständige Sich-auseinandersetzen-Müssen mit jenem Wort, das die eigene Existenz so prägt: race.
Liebe Leserin, lieber Leser,
diesen Text stellen wir Ihnen kostenlos zur Verfügung. Im FURCHE‐Navigator finden Sie tausende Artikel zu mehreren Jahrzehnten Zeitgeschichte. Neugierig? Am schnellsten kommen Sie hier zu Ihrem Abo – gratis oder gerne auch bezahlt.
Herzlichen Dank, Ihre Doris Helmberger‐Fleckl (Chefredakteurin)
diesen Text stellen wir Ihnen kostenlos zur Verfügung. Im FURCHE‐Navigator finden Sie tausende Artikel zu mehreren Jahrzehnten Zeitgeschichte. Neugierig? Am schnellsten kommen Sie hier zu Ihrem Abo – gratis oder gerne auch bezahlt.
Herzlichen Dank, Ihre Doris Helmberger‐Fleckl (Chefredakteurin)
Dass in dieser deutschsprachigen Ausgabe an keiner Stelle eine editorische Notiz angebracht ist, dass man das englische Wort race nicht einfach so mit Rasse übersetzen kann, ist befremdlich (siehe dazu Interview mit Anatol Stefanowitsch). Im Folgenden wird, von dieser deutschen Übersetzung abweichend, mit Ausnahme der wörtlichen Zitate daher der ursprüngliche englische Begriff race verwendet, der semantisch viel weiter besetzt ist als der deutsche Begriff Rasse. Er ist wie das deutsche Wort eine ideologische Konstruktion, es gibt aber auch emanzipatorische Bewegungen, für die race jenseits von Biologismen Teil eines kulturellen Selbstverständnisses geworden ist, das gerade von dem „zu einer Rasse gemacht werden“ wegführt zu einem selbstbewussten Aktiv-Werden, das Identität stiftet.
Die Welt lässt sich nicht vom Rassenbegriff und vom Rassismus befreien durch bloße Behauptung. (Toni Morrison)
Toni Morrison thematisiert diese Veränderung auch in einem ihrer Essays. Drei Jahrhunderte lang, so Morrison, bestanden alle akademischen Fachdisziplinen auf race als entscheidendem Faktor der menschlichen Entwicklung. Die Hierarchie der Rassen wurde gepredigt und die Unterdrückung damit stabilisiert. Aber just in dem Moment, in dem Afroamerikaner sich ihrer Kultur bewusst wurden und sich selbstbewusst damit zu beschäftigen begannen, hätte der Begriff race aus dem intellektuellen Austausch verschwinden sollen (ohne dass freilich der Rassismus deswegen verschwunden wäre).
Aber es gibt die afroamerikanische Kultur, und sie ist von den Konzepten „Geschlecht“ und „race“ durchdrungen. „Die Welt lässt sich nicht vom Rassenbegriff und vom Rassismus befreien durch bloße Behauptung“, weiß Toni Morrison und legt nach: „Ethnische Differenz aus dem literarischen Diskurs zu eliminieren ist selbst schon ein rassistischer Akt.“
Sprache auch als Gefängnis
Eine Sammlung von Essays aus unterschiedlichen Zeiten und Anlässen führt dazu, dass es zu Wiederholungen kommt, die in dieser Zusammenstellung dann aber interessanterweise die Auseinandersetzung jeweils um Nuancen weiterdrehen. Es gibt keine Chronologie, aber mit den Themen geht man ein Stück des Lebens der Autorin mit, die 1931 in Lorain, Ohio, geboren wurde und 2019 in New York starb. Nie, so schreibt Toni Morrison an unterschiedlichen Stellen, hat sie in einer Welt gelebt, in der race kein Thema war.
„Sind Sie eine schwarze Schriftstellerin oder eine amerikanische Schriftstellerin?“ Fragen wie diese werden immer wieder, auch implizit, gestellt. Als könnte man nicht beides sein. Sprache kann befreiend sein, das weiß eine Autorin, deren Material die Sprache ist, aber sie kann auch ein Gefängnis sein. Wohin die Ausflüge der Fantasie sie auch führten, so Morrison, der Gefängniswärter war immer in der Nähe, stets hörte man die Schlüssel klirren. „Der Name dieses Wärters ist“: race.
Wie entkommt man diesem Wärter? Ist da überhaupt ein Entkommen? Kann man ein durch race bestimmtes Haus umbauen, oder muss man ausziehen? Kann man das? Wie soll man mit der Differenz umgehen, die doch da ist? Die Welt, in der race eines Tages keine Rolle mehr spielen würde, stellen sich manche als eine Art Paradies, Traumland, Utopia vor. Anders Morrison. „Eine farbenblinde, rassenneutrale Umgebung sehe ich weder voraus, noch will ich sie. Die Zeit dafür war das neunzehnte Jahrhundert. Jetzt ist es zu spät. Unsere von ,Rasse‘ grundierte Kultur existiert nicht nur, sie gedeiht. Die Frage ist, ob sie als Virus oder als üppiger Ertrag von Möglichkeiten gedeiht.“
Toni Morrison setzt auf die Vielfalt der Möglichkeiten und bringt in ihrer Literatur afroamerikanische Traditionen ein, die weniger eine Frage des Stoffes als eine der Form sind. Nie wäre es ihr dabei darum gegangen, je festzulegen, was „schwarze Literatur“ sei, sondern es ging ihr darum, schwarze Literatur zu schreiben, schwarz nicht wegen der Figuren oder weil sie, die Autorin, schwarz war, „sondern weil sie sich die anerkannten und verifizierbaren Prinzipien schwarzer Kunst zur schöpferischen Aufgabe macht“. Die spezifischen ästhetischen Traditionen afroamerikanischer Kultur sind unerlässlich für Toni Morrisons literarisches Werk.
Westliche oder europäische Schriftsteller dächten möglicherweise, ihr Werk wäre frei von race oder transzendiere diese. Andere wären durch race konnotiert, sie selbst nicht. „Die Wahrheit ist natürlich, dass wir alle ,rassisch konnotiert‘ sind.“ Um die gleiche Souveränität wie jene Schriftsteller zu bekommen, habe sie drei Möglichkeiten für sich gesehen: 1. race einfach zu ignorieren – aber das würde ja wegwischen, was ein so prägender Fakt in ihrem Leben sei. 2. Sie könnte „zur kühlen, ,objektiven‘ Beobachterin werden, die über Rassenkonflikte und/oder Harmonie zwischen den Rassen schreibt“. Aber damit wäre ihr Thema immer race. Oder sie wage es und suche 3. einen Weg, „meine Vorstellungskraft von den Zumutungen und Begrenzungen von ,Rasse‘ zu befreien“ und zugleich „zu erforschen, welche Konsequenzen“ es habe, dass race dermaßen zentral wäre in der Welt und im Leben der Menschen.
Ist eine nicht ,race‘-spezifische Erzählsprache überhaupt möglich, kann man sich an einem erzählerischen Ort aufhalten, der ,frei ist von rassistischem Schutt‘? “
„Wie verwandelt man ein vom Rassismus bewohntes Haus in ein ethnisch spezifisches, aber nicht rassistisches Zuhause? Wie spricht man von ,Rasse‘ [race] und befreit dieses Wort gleichzeitig von seinem mörderischen Unterton?“ Das sind Kernfragen, denen Toni Morrison in vielen hochkomplexen und zugleich emphatischen literarischen Werken erzählend nachging. Kann man „eine Welt gestalten, die zugleich kulturspezifisch und frei von ,Rasse‘ ist“? Kann die eigene Vorstellungskraft möglichst unbelastet und möglichst verantwortungsbewusst zugleich sein? „Das alles präsentierte sich mir als Projekt voller Paradoxien und Widersprüche.“
In ihren Romanen erforschte Morrison vom Begriff race verzerrte Themen, angefangen 1970 mit ,,The Bluest Eye“ über „Sula“, „Song of Solomon“, „Tar Baby“ bis zu „Beloved“. Ist eine nicht race-spezifische Erzählsprache überhaupt möglich, fragte sie sich, kann man sich an einem erzählerischen Ort aufhalten, „der frei ist von rassistischem Schutt“? In ihrem beeindruckenden Roman „Paradise“ dramatisierte sie 1998 den auf race fixierten Blick ganz bewusst, „um ihn dann restlos zu verunsichern“.
Was Toni Morrisons Literatur schafft, hat das Leben noch nicht erreicht. „Wie neuartig es wäre, wenn in diesem Fall das Leben die Kunst nachahmte. Wenn es in besagtem Fernsehinterview um mein eigentliches Lebenswerk gegangen wäre. Wenn ich, in einem Wort, keine (rassisch konnotierte) Fremde, sondern eine Einheimische wäre, die bereits zur menschlichen Rasse gehört.“
Selbstachtung
Ausgewählte Essays
Von Toni Morrison
Rowohlt 2020
544 S., geb., € 24,70
Hat Ihnen dieser Artikel gefallen?
Mit einem Digital-Abo sichern Sie sich den Zugriff auf über 40.000 Artikel aus 20 Jahren Zeitgeschichte – und unterstützen gleichzeitig die FURCHE. Vielen Dank!
Mit einem Digital-Abo sichern Sie sich den Zugriff auf über 40.000 Artikel aus 20 Jahren Zeitgeschichte – und unterstützen gleichzeitig die FURCHE. Vielen Dank!