Musil - © Foto: APA/Ullstein

Wer war Robert Musil?

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Wendelin Schmidt-Dengler über zwei Versuche, sich dem Leben und Werk des österreichischen Schriftstellers anzunähern.

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Wendelin Schmidt-Dengler über zwei Versuche, sich dem Leben und Werk des österreichischen Schriftstellers anzunähern.

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Zwei Bücher verschieden wie nur und doch über denselben Gegenstand: Robert Musil, Leben und Werk, wobei die Akzente unterschiedlich verteilt sind. Vor allem aber ist bei Koppelung das Und entscheidend, jene von den kritischen Köpfen schwer beargwöhnte Beziehung zwischen Leben und Werk, und eines sei vorweggenommen: Weder Karl Corino noch Herbert Kraft leiten das Werk simpel aus dem Leben ab, doch liegt bei Corino der Akzent eindeutig auf der Biografie, während Kraft vom Werk zurück auf die Biografie blickt.

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Corinos Werk ist sechsmal so umfangreich wie das Krafts. Seit 1966 recherchierte der heute 61-jährige Corino in Sachen Robert Musil, und angesichts dieser Tatsache kann man bei den 2026 bedruckten Seiten des vollendeten Werkes geradezu von bescheidener Zurückhaltung sprechen und mit Genugtuung vermerken, dass dem Exemplar noch vierzehn Leerseiten für Ergänzungen beigebunden sind.

Ein Lebenswerk

Dass man Corinos Biografie, einem Lebenswerk im wahrsten Sinne des Wortes, höchsten Respekt zu zollen hat, ist jeder Rezension voranzustellen: Nicht nur die gewaltige Arbeitsleistung nötigt Bewunderung ab, auch die klare, phrasenlose Sprache, die Kombinationsgabe, die spürbare Lust am Rätsellösen und die Freude über die Trouvaillen, die einzelne Zusammenhänge zwischen Werk und Biografie oft überraschend zu erhellen vermögen. Musils Biografie ist weit über den individuellen Fall des Schriftstellers Musil hinaus interessant, es ist auch die Biografie eines Offiziers, eines Ingenieurs, eines Beamten, eines Literaturkritikers, sie führt aus den kakanischen Anfängen (Klagenfurt, Steyr, Brünn, Eisenstadt, Mährisch-Weißkirchen, Wien) über Stuttgart und Berlin zurück nach Wien und von da nach Genf ins Schweizer Exil. Dankenswerter Weise hat Corino seiner Biografie eine Zeittafel "mit Itinerar" beigefügt, eine sehr bescheidene Einkleidung für die Summe gründlicher Nachforschungen und zugleich ein unentbehrliches Arbeitsinstrument für jeden Musilforscher.

Prägende Figuren

Mit bewundernswerter Energie spürt Corino dem Detail nach; ihn faszinieren vor allem jene Figuren, die irgendwie Anstöße für das eine oder andere Werk, vor allem aber für die Gestalten im "Mann ohne Eigenschaften" gegeben haben könnten. Das ist zunächst einmal Musils Geliebte zu Beginn des vorigen Jahrhunderts in Stuttgart, Herma Dietz, von der man früher so gut wie gar nichts wusste; aber Corino wühlt dabei nicht im biografischen Detail und begnügt sich auch nicht mit dem Auskosten des Anekdotischen, sondern versucht, jenen Gestalten auch Konturen zu geben, die für Musil Verbindlichkeit erlangten und zugleich auch eine Typus repräsentieren, um dessen Gestaltung es Musil mit Diotima, Bonadea, Clarisse, Agathe, Walter, Arnheim, Hagauer, Moosbrugger, dem Grafen Leinsdorf ging. Ein Rathenau erscheint so nicht als simple "Vorlage" für Arnheim, sondern wird in seiner Bedeutung als Finanzmann und Politiker gefasst. Besonders aufschlussreich ist die Beziehung zwischen Hagauer, Agathes Gatten, und dem Erfinder der Arbeitsschule, Georg Kerschensteiner, mit dem die Problematik des Pädagogen Einzug in den Roman erhält. Mitunter befremdet es auch, wenn Corino einem Lebenslauf mit ganz besonderer Intensität nachgeht, so etwa dem des Professors Carl Bach, dem Chef Musils während seines Volontariats an der Technischen Hochschule in Stuttgart, aus dessen Schriften er üppig zu zitieren beginnt. Er kommt auf das Problem der Materialprüfung zu sprechen und von da auf die Katastrophen, die auf solche Materialfehler zurückgehen, von da zum Schriftsteller Max Eyth und dann auf Fontanes Ballade von dem Einsturz der Brücke über den Tay, findet aber doch irgendwie zu Robert Musil zurück. Der Text mäandert so durch die Geschichte der Technik, der Literatur, der Philosophie, der Wissenschaften und auch der Politik.

Corino behandelt das Heikle mit Dezenz und erhebt sich nicht mit moralischen Klimmzügen über seinen Autor.

Corino ist bei aller Bewunderung nicht blind für die Punkte, an denen sich Musil der Kritik ausgesetzt sehen musste, und dies gilt vor allem für den Bereich seiner politischen Einstellung, so für die Worte, die er bei Kriegsausbruch 1914 fand: "Der Tod hat keine Schrecken mehr, die Lebensziele keine Lockung. Die, welche sterben müssen oder ihren Besitz opfern, haben das Leben und sind reich." Für Musil sei der Krieg gerade recht gekommen, um "ihn aus einer - nach außen hin noch verdeckten - Depression" zu befreien.

Ausführlich werden auch die Vorgänge beim Schriftstellerkongress von 1935 in Paris dargestellt; Musils Freunde hatten es da nicht leicht, den Umgang mit einem Schwierigen in schwierigen Zeiten zu pflegen. Auch das Verhalten Musils nach dem Einmarsch Hitlers in Österreich wird exakt dokumentiert, auch die merkwürdige Äußerung, er, Musil, habe schon als Herausgeber der "Soldaten-Zeitung" "auf die engste Einheit der beiden Reiche, die damals zu fordern möglich war, hingewirkt". Besonderes Augenmerk widmet Corino sehr persönlichen Details, und der Zugang dazu läuft über die Krankheit; so ist von der luetischen Infektion die Rede, deren Folgen für allfällige Nachkommenschaft der Autor fürchtete, von dem legendären Schlaganfall 1936 im Dianabad, der, so Corino, von den Angehörigen in seiner Bedeutung heruntergespielt worden sei, doch die große Gefährdung durch die Hypertonie überdeutlich werden ließ.

Corino behandelt das Heikle mit Dezenz und erhebt sich nicht mit moralischen Klimmzügen über seinen Autor, eine Praxis, deren sich gerade Dichterbiografien der jüngeren Vergangenheit so gerne bedienen, so dass einem die Laster der Dichter sympathischer werden als die Tugenden der Kritiker.

Sinnvolle Umwege

Gerade durch die so intensiv praktizierte Umwegigkeit liest sich diese Biografie nicht nur als eine Studie über einen Autor, sondern auch als eine kleine Kulturgeschichte des deutschen Sprachraums in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Dass es nicht nur eine Wanderung auf einem Höhenkamm wird, dafür sorgen zwei Exkurse, die sich mit der Rolle des Sports und des Kinos bei Musil befassen und bezeugen, wie prägnant Musil solchen Phänomenen als Denker gerecht werden konnte. So empfiehlt sich diese Schrift für den Laien wie für den Kenner, man hat allerdings von diesem Buch je mehr, je mehr man von Musil weiß. Natürlich würde man sich manches Thema ausführlicher gestaltet wünschen; so etwa eine mögliche Querverbindung zu Wittgenstein und dem Wiener Kreis: Musil erwähnt einmal im Tagebuch höchst aufschlussreich Otto Neurath und wertet die Wiener Philosophie im Vergleich zur Exaktheit seines Berliner Lehrers Stumpf ab. Man könnte sich auch manche Facette über den Wiener (und Berliner) Literaturbetrieb vorstellen, so etwa die Polemik gegen Anton Wildgans, den Musil zu seinem Antipoden schlechthin machte. Oder die Auseinandersetzung mit Leo Perutz, wodurch die nicht unwesentlichen lokalen Verflechtungen manifest werden. Das sei nicht als Beckmesserei verstanden, sondern als der Wunsch nach noch mehr Text, der sich bei einem Werk dieses Umfangs wohl selten einstellt.

Es ist auch ein Verdienst der Biografie Corinos, dass es trotz aller Akribie und trotz höchstmöglicher Vollständigkeit nicht zur Denkmalsstarre und Monumentalität verurteilt, sondern vielmehr dazu anregt, weitere Fragen an Musils Leben und Werk zu stellen.

Musils Wille

Herbert Kraft operiert von derselben Materialbasis, legt aber vor allem kurze und kompakte Interpretationen vor, greift dort, wo es ihm sinnvoll scheint, auf die Biografie zurück, zeigt sich aber durchgehend an ideengeschichtlichen Zusammenhängen interessiert. Der Zusammenhang ergibt nicht aus dem Lebenslauf oder der Werkgeschichte, sondern vielmehr aus dem Willen, den Kraft Musil unterstellt: "Robert Musil: sein Wille war seine Eigenschaft, der Wille anders zu sein, ein Individuum, ein Subjekt. Was hätte aus ihm, der nicht außergewöhnlich begabt war, auf mittelmäßige Schulen geschickt wurde, schon werden können, wenn er nicht diesen starken, starren Willen gehabt hätte, der zu werden, der er noch nicht war und doch war, wie er ein Denkbild von sich hatte." An Sätzen dieser Art ist Krafts Text reich. Sie gemahnen nicht von ungefähr auch die Nähe Musils zur Mystik, die dieser allerdings sehr behutsam in seiner Sprache einzukreisen suchte. Die mystischen Elemente nehmen im Buch Krafts zu und Musils Tod wird unter dem geradezu liturgischen Titel "Versehen mit den Tröstungen des Lebens und der Literatur" behandelt.

Hier spricht jemand, der gründlich und genau über Musil nach-, aber nicht alles zu einem Ende oder gar weitergedacht hat. Gerade bei der Interpretation der "Drei Frauen" könnte ich mir klarere Resümees vorstellen. Mitunter hatte ich große Schwierigkeiten, den Sätzen zu folgen oder sie im Kontext zu lokalisieren.

So bleibt am Ende der Eindruck eines anregenden Patchworks, das - wie der Anhang beweist - auf einer umfassenden Kenntnis der Forschungsliteratur beruht, zugleich aber auch unnötig sprunghaft wirkt. Man schreitet nicht mit den einzelnen Gedanken voran, sondern hüpft von einer Satzinsel zur anderen. Unverzeihlich, dass die Zitate aus der Primärliteratur nicht nachgewiesen sind. Selbst Kenner des Musilschen Werkes werden Schwierigkeiten haben, diese in den etwa 10.000 Seiten der Quellenwerke zu finden. Ein Buch auf hohem Niveau, anregend vor allem deshalb, weil es immer wieder zur kritischen Überprüfung herausfordert.

Gewiss ist, dass die Auseinandersetzung mit Musil noch zu keinem Ende gekommen ist und auch so bald nicht kommen wird. Und es ist auch ein Verdienst der Biografie Corinos, dass es trotz aller Akribie und trotz höchstmöglicher Vollständigkeit nicht zur Denkmalsstarre und Monumentalität verurteilt, sondern vielmehr dazu anregt, weitere Fragen an Musils Leben und Werk zu stellen.

Wendelin Schmidt-Dengler

Der Autor ist Vorstand des Instituts für Germanistik der Universität Wien.

Musil - © Rowohlt
© Rowohlt
Buch

Robert Musil

Eine Biographie von Karl Corino
Rowohlt Verlag 2003
2026 S., geb., € 86,40

Musil - © Zsolnay
© Zsolnay
Buch

Musil

Von Herbert Kraft
Paul Zsolnay Verlag 2003
357 S., geb., € 24,20

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