w:orte - © Foto: Brigitte Schwens-Harrant

W:ORTE: Von Wildnis bis Babel

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Bis 7. Juni findet in Innsbruck und an anderen Orten das Internationale Lyrikfestival W:ORTE statt. Anna Rottensteiner, die das Festival seit seiner Gründung bis 2022 mitkuratiert hat, stellt hier eine Auswahl ihrer persönlichen Highlights dieses Jahres vor.

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Bis 7. Juni findet in Innsbruck und an anderen Orten das Internationale Lyrikfestival W:ORTE statt. Anna Rottensteiner, die das Festival seit seiner Gründung bis 2022 mitkuratiert hat, stellt hier eine Auswahl ihrer persönlichen Highlights dieses Jahres vor.

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Aufgegebene Industrielandschaften im Herzen Deutschlands oder in fernen sibirischen Städten – das Ende der Welt mit seinen zerstörten, verseuchten, ausgehöhlten und untergrabenen Gebieten, die sich selbst überlassen sind, kann nicht nur im ukrainischen Pripjat, sondern überall sein; einst als Zukunft heraufbeschworen, ist die Gegenwart Zerrbild einer Vergangenheit. Das Innerste des Menschen ist dabei das Bedrohliche und Bedrohte zugleich, seine Häuser und Zimmer sind verlassen und fallen der Wildnis anheim.

Mit Daniela Danz ist dieser Tage eine der großen Lyrikerinnen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur in Innsbruck zu Gast. In ihrem Gedichtband „Wildniß“ (Wallstein 2020) knüpft sie an Friedrich Hölderlin und dessen innige, aber nicht reibungslose Haltung zu Natur und Wildnis an. Kühn und streng in der formalen Aufarbeitung und in einer sich der eigenen Unbeholfenheit bewussten und genau in dieser Fragilität überzeugenden Suchbewegung katapultiert und potenziert Danz die Ambivalenz der Haltung zu Natur und Wildnis in die Gegenwart.

Wildnis der Rede

Diese Wildnis ist dabei überall zu finden: einerseits als Sehnsuchtsbild, als Gegentopos zur immer exzessiveren Naturausbeutung; andererseits aber auch in den Reden und Debatten, in Form von Verrohung und Grobheit. Und so trägt denn einer der drei Zyklen, die den schmalen Band gliedern, den Titel „Wildnis der Rede“. In ihm finden sich vier Gedichte verborgen, die wohl in den ersten Monaten der Pandemie verfasst wurden. „Wildnis der Pause“ ist in einem der Gedichte zu lesen, die bereits so vieles beinahe prophetisch in sich bergen, was die Menschheit drei Jahre lang beschäftigen würde.

Das Wort Corona als ein Synonym für die Fermate in der Musik bezeichnet das Ruhe- oder auch Aushaltezeichen. Und was könnte zutreffender sein als diese Metapher für eine Zeit, in der alles innehielt, eine Zeit, in der, wie im Schweigen der Pause, alles vorhanden war, in der „alles was außerdem möglich gewesen wäre“ angelegt war. Die Bewegung, zu der die Menschheit nach der Pandemie zurückgekehrt ist, und auch dies ist im Gedicht durch die Verwendung des Konjunktiv Zwei bereits angelegt, unterscheidet sich allerdings nicht von jener vor der Pandemie, im Gegenteil – die Menschheit hat eine Chance vertan. Was zur Zeit der Verfassung des Gedichts also noch Zukunft war, ist im Gedicht bereits – traurige – Geschichte.

Auch der Gedichtband „Die Stadt der Äpfel“ (Hanser 2021) der albanischen Autorin Luljeta Lleshanaku enthält einen Corona-Zyklus. Lleshanakus Familie war aufgrund der Zugehörigkeit zu einer ehemals vermögenden Klasse jahrzehntelangen Repressalien unter dem Regime von Enver Hoxha ausgesetzt. Luljeta Lleshanaku selbst durfte nicht studieren und konnte erst 1993 debütieren. Von da an wurde sie zu einer hoch geschätzten Dichterin, die mittlerweile wissenschaftliche Leiterin des Instituts für die Aufarbeitung des kommunistischen Genozids in Albanien ist, kontinuierlich publiziert und unter anderem mit dem albanischen Staatspreis für Literatur ausgezeichnet worden ist. Ihre Lyrik ist streng, verhalten und lapidar, dabei genau und sezierend. Oft surreal anmutende Momente wie im Langgedicht „Homo antarcticus“, in dem sie anhand der Biografie des Antarktis-Forschers Frank Wild dem Zusammenhang zwischen Vergessenwerden und Frei-Sein nachspürt und darüber nachsinnt, was es heißt, aus dem Reich der Toten zurückzukehren, sind ihrer Biografie geschuldet: So wurde Lleshanaku wenige Monate vor dem politischen Umsturz im Oktober 1990 für tot erklärt und konnte erst nach einigen Monaten in einem Dorf in den Bergen ihren Verwandten mitteilen, dass sie noch lebte.

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