Genderbrille - © Illustration: Rainer MEsserklinger

Literaturkritik und Geschlecht: männliche Wertung, „weiblicher“ Geschmack

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Wie sprechen Männer, wie Frauen über welche Literatur? Wem wird welche Kompetenz zugeschrieben? Studien und Publikationen untersuchen Auffälligkeiten in der Literaturkritik.

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Wie sprechen Männer, wie Frauen über welche Literatur? Wem wird welche Kompetenz zugeschrieben? Studien und Publikationen untersuchen Auffälligkeiten in der Literaturkritik.

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Das Beispiel hat schon einen Bart, aber bis heute kommt man nicht daran vorbei, wenn von Literaturkritik und Geschlecht die Rede ist: Wie Marcel Reich-Ranicki in der 67. Ausgabe des Literarischen Quartetts im Juni 2000 seiner Kritikerkollegin Sigrid Löffler in einem Streit über den Murakami-Roman „Gefährliche Geliebte“ vorhielt, dass sie den Roman nur deshalb ablehne, weil sie die Erotik darin nicht ertrage. Löffler verließ daraufhin das Quartett: „Es war das reinste Lehrstück in Frauenfeindlichkeit. Nach dem Muster: Wenn ich mich erdreiste, im Widerspruch zu Reich-Ranicki Sachkompetenz zu behaupten, dann kann mit meiner Weiblichkeit etwas nicht stimmen. Indem man mich als Frau entwertete, sollte ich als Kritikerin beschädigt werden“, analysierte sie in einem Interview mit dem Spiegel kurz danach sehr treffend.

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Reich-Ranickis Äußerungen zur Literatur von Frauen über die Jahrzehnte sind eine Fundgrube für Sexismus-Beispiele in der Literaturkritik, fast alle misogynen Strategien finden da Anwendung, vom paternalistischen Scheinlob bis zur offenen Herabwürdigung allein auf Basis des Geschlechts. Es ist aber wenig gewonnen, diese wieder und wieder zu wiederholen, ohne eine tiefgehende Analyse der Mechanismen, die dazu führ(t)en. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Bedeutung des Geschlechts für die Literaturkritik hat sich jahrzehntelang auf Fragen des Kanons beschränkt, und damit, wie über Literatur von Frauen geschrieben wurde.

In der Tradition von Virginia Woolf

Diese Marginalisierung von Literatur weiblicher Autorinnen als „Frauenliteratur“ hat sich Nicole Seifert in ihrem Band „Frauen Literatur“, erschienen bei Kiepenheuer & Witsch, angesehen. „Frauen“ muss man sich grafisch durchgestrichen vorstellen, so dass nur „Literatur“ übrigbleibt, gleichzeitig stehen die Worte aber nebeneinander: Es geht um Frauen und es geht um Literatur, ganz in der Tradition von Virginia Woolf, die sich in „A Room of One’s Own“ genau dieser Frage widmet. Die literaturhistorischen Teile sind nicht unbedingt neu, aber sehr spannend und lesenswert aufbereitet. Seiferts große Leistung besteht darin, wie sie den Bogen von der Vergangenheit bis in die unmittelbare Gegenwart schlägt und die verschiedenen Diskurse, die zum Status quo geführt haben, sichtbar macht – belegt mit vielen Beispielen auch abseits der üblichen Protagonisten und Protagonistinnen und schon bekannten Anekdoten.

Es konnte gezeigt werden, dass auch in der Literaturkritik eine strenge Arbeitsteilung herrscht, die gesellschaftliche Geschlechterrollen spiegelt.

In den letzten Jahren hat sich der Fokus der Wissenschaft erweitert und es wurde die Literaturkritik selbst in den Blick genommen. Zwei Studien, eine davon stammt von der Verfasserin, haben erstmals umfangreiche Zahlen für die Geschlechterverhältnisse in der Literaturkritik im deutschsprachigen Feuilleton erhoben. Es konnte gezeigt werden, dass nur ungefähr ein Drittel der Rezensionen von Frauen stammt und dass auch in der Literaturkritik eine erstaunlich strenge Arbeitsteilung herrscht, die gesellschaftliche Geschlechterrollen und einen geschlechtlich geprägten Habitus spiegelt: Kritiker besprechen andere Männer und prestigeträchtige Titel, Kritikerinnen besprechen Männer und Frauen fast ausgewogen, sie orientieren sich nicht am symbolischen Kapital, das von einem besprochenen Buch auf sie selbst abfällt, und fast ein Viertel ihrer Rezensionen fällt in den Kinder- und Jugendbuchbereich, der im Œuvre der männlichen Kollegen mit knapp über einem Prozent praktisch inexistent ist.

Nachdem also statistisch klare Verhältnisse geschaffen wurden, musste der nächste Schritt erfolgen, denn Fragen der Quantität lassen sich nicht von Fragen der Qualität trennen, sie bedingen sich gegenseitig. Nach der Frage nach dem Wieviel geht es um eine Analyse des Wie: Wie spricht wer worüber? Wem wird die Expertise eingeräumt, Stellung zu beziehen?

Gemeinsam mit Peter Pohl lud ich letztes Jahr zu einer Tagung zum Thema, der jetzt der in der edition text + kritik erschienene Band „Das Geschlecht der Kritik“ folgte. Die vielfältigen Beiträge eint im Kern eines: Fragen nach dem Geschlecht sind immer auch Fragen nach Machtverhältnissen. Die Literaturkritik erweist sich dabei als Expert(inn)endiskurs, der sich mit einem so universalen Gebiet wie der Literatur auseinandersetzt, als über sich selbst hinaus verweisendem, gesellschaftlichem Mikrokosmos. Das zeigt sich zum Beispiel an der Verschleierung von männlichen Machtmechanismen: Obwohl die Literaturkritik nur so strotzt vor Männlichkeitsinszenierungen, wird gleichzeitig so getan, als wären männliche Wertungsmaßstäbe vom Geschlecht des Wertenden unabhängig und nur das Weibliche wird geschlechtlich markiert, ganz als hätte sich seit Simone de Beauvoir nichts getan. Dabei, und das ist eine interessante Diagnose, verweisen Kritiker sehr viel häufiger auf ihr eigenes Geschlecht, als Kritikerinnen das tun.

Der „weibliche“ Geschmack

Wird ein als weiblich konnotiertes Gebiet betreten, beispielsweise Besprechungen von Kinderbüchern, kommen Legitimierungsstrategien zum Tragen, so verweisen Kritiker dann gerne auf ihre Funktion als Familienvater. Und auch die Vorstellung, dass es Bücher gäbe, die Frauen lieber läsen und ästhetische Verfahren, die Frauen mehr ansprächen, wird in der Literaturkritik häufiger von Männern bedient. Da schreibt ein Kritiker im Neuen Deutschland beispielsweise, das neue Buch von Joyce Carol Oates würde wohl eher seiner Frau gefallen, wegen des unentschiedenen Stils, und Hellmuth Karasek kommentiert den Nobelpreis von Alice Munro mit dem Hinweis, seine Frau empfehle ihre Bücher seit Jahren, aber er habe nie etwas davon gelesen.

Aus Sicht der Rezeptionsforschung ist der Hinweis auf einen „weiblichen“ Geschmack freilich Unsinn, das Gegenteil ist der Fall: Mädchen und Frauen werden von klein auf darauf trainiert, beim Lesen (von Büchern und der Welt gleichermaßen) Perspektiven einzunehmen, die nichts mit ihrem Körper und ihrem Platz in der Welt zu tun haben. Das trifft im Übrigen auf andere marginalisierte Gruppen genauso zu.

Literatur lesen und interpretieren zu lernen, kann und soll dabei helfen, die Welt lesen zu lernen. Ohne ihre Bedeutung zu überschätzen, kann die Literaturkritik mit aufzeigen, welche unterschiedlichen Möglichkeiten dieser Text- und Weltaneignung gewählt werden können. Gerade deshalb ist es wichtig, dass die Vielfalt der Literatur und die Vielfalt der Leserinnen und Leser sich auch im öffentlichkeitswirksamen Besprechen und Werten von Literatur niederschlägt.

Die Autorin ist Senior Scientist am Innsbrucker Zeitungsarchiv.

Frauen Literatur - © Foto: Kiepenheuer & Witsch
© Foto: Kiepenheuer & Witsch
Buch

Frauen Literatur

Abgewertet, vergessen, wiederentdeckt
Von Nicole Seifert Kiepenheuer & Witsch
2021 224 S., geb., € 18,50

Das geschlecht der Kritik - © Foto: edition text + kritik
© Foto: edition text + kritik
Buch

Das Geschlecht der Kritik

Studien zur Gegenwartsliteratur
Hg. von Peter C. Pohl und Veronika Schuchter
edition text + kritik 2021 237 S., kart., € 29,90

Einer von Veronika Schuchter und Peter C. Pohl im Jahr 2020 veranstalteten Tagung folgte jetzt der bei der edition text+kritik erschienene Sammelband „Das Geschlecht der Kritik“. Die darin behandelten Themen sind vielfältig: Sie reichen von einer Analyse von Autor(inn)en-Fotos über Literaturblogs bis hin zu Literaturtipps in der Bunten und dem Playboy. Analysiert werden „Figuren der Umkehrung“ wie der viral gegangene Hashtag #dichterdran, die Strategie hinter Elena Ferrantes anonymisierter Autorschaftsinszenierung bis hin zur Figur der Debütantin. Es findet sich auch ein Beitrag aus Nicole Seiferts Buch „Frauen Literatur“ und Brigitte Schwens-Harrant wirft einen einordnenden Blick aus der Praxis auf das Thema.

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