funkhaus - © Wikimedia / Thomas Ledl

Lob eines intimen Mediums. Fast ein Nachruf aufs Radio

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Radiokultur ist Demokratiekultur, mein Hörfunkprofi Hubert Gaisbauer. Beinahe ein Abgesang auf ein Kulturmedium.

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Radiokultur ist Demokratiekultur, mein Hörfunkprofi Hubert Gaisbauer. Beinahe ein Abgesang auf ein Kulturmedium.

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Vor einigen Jahren, es ist noch gar nicht so lange her, hielt der Lyriker Reiner Kunze dem Radioprogramm Österreich 1 eine Lobrede und wünschte ihm einen Sendemast im Weltall. Warum im Weltall hat Kunze nicht begründet; vielleicht hat er geahnt, daß sich dieses Kulturprogramm bald überirdisch ausnehmen könnte, wenn etwa in diesem Jahr noch allein in Österreich mehr als fünfzig Privatradiostationen mit fast ausschließlich kommerziellem Interesse den Sendebetrieb aufnehmen werden.

Das heißt, es wird in Österreich soviel Radio geben, wie noch nie zuvor. Das Radio im Vormarsch? Um im Bild zu bleiben: ja, und zwar als Kompanie aerobicgedreßter Formatradios, die alle nach einer Grundchoreographie durch den Äther hetzen und jeder gegen jeden kämpfen werden. Die Musik nicht handverlesen von einem Menschen mit Ohr und Herz, sondern formatkompatibel PC-gesteuert; jedes Wort skeptisch geprüft, aber nicht auf seinen Inhalt, sondern auf seine Kürze.

Gäbe es nicht Österreich 1, würde sich in fünf Jahren niemand mehr daran erinnern, was Radio auch sein könnte und einmal vorrangig war: ein Ort der Phantasie, des Verweilens, der Intimität. Würde das Wort Radiokultur aus einem imaginären Wörterbuch der Humanität verschwunden sein. Niemand würde sich daran erinnern, daß das Radio eigene authentische Kunstformen hervorgebracht hat, nämlich das Hörspiel und das Feature.

Der österreichische Radiopionier Rudolf Henz hat vor fast vierzig Jahren auf Seite 270 seiner Autobiographie "Fügung und Widerstand" geschrieben: "Perfekte Manager und schwerstrapazierte Politiker werden vom Rundfunk stets nur Entspannung fordern. ,Hörts doch endlich auf mit dem Blödsinn!' sagen sie und meinen damit Hörspiele, Vorträge und ähnliches. Das Verhängnis beginnt überall dort, wo politische Taktiker über kulturelle Fragen entscheiden."

Medienpolitik in Österreich ist aber die beliebteste Spielwiese politischer Taktiker. Und nicht einer von ihnen hat sich je über den als antiquiert geltenden Begriff Radiokultur auch nur eine Sekunde den Kopf zerbrochen.

Radiokultur verlangt und bewirkt Zuhörer und nicht Einschaltziffern. Walter Dirks, einst ein Radiomann und ein Weiser unseres Jahrhunderts, hat einmal den Satz geschrieben: "Zuhörer haben einen guten Kopf und ein lebendiges Herz." Wem an einer gesunden Entwicklung einer demokratischen Gesellschaft gelegen ist, der weiß, daß es dafür möglichst vieler Menschen bedarf, die einen guten Kopf und ein lebendiges Herz haben, der müßte demnach ein brennendes Interesse an möglichst vielen "Zuhörern" haben.

Radiokultur ist Demokratiekultur, weil sie das Gespräch (viel mehr als das sogenannte Interview), den Dialog und den Diskurs pflegen kann, weil sie den Argumenten, die aus der Nachdenklichkeit kommen, Raum geben kann, weil man im Radio so gut das Nachdenken hören kann. Abseits von den kurzen Sagern, Stellungnahmen und sogenannten Reaktionen. (Es ist kein Zufall und keine Willkür, daß das Wiener Funkhaus auch die Rolle eines "Radiokulturhauses" übernommen hat, wo neben künstlerischen Darbietungen auch - und vor allem - das öffentliche Gespräch gepflegt wird.)

Radiokultur, die nicht ins Minderheiten-Ausgedinge geschickt wird, bewirkt auch das, was ich Kunstfähigkeit nennen möchte, weil es so grundlegende Kulturtechniken erhält und fördert wie das Verweilen, das Aushalten, das Sich-aussetzen-können. Und zwar in Opposition zu einer Scheinästhetik der Flüchtigkeit, die mit ihren permanenten Reizen stets auf der Flucht vor der vermeintlichen Langeweile ist.

Radiokultur ist auch eine Kultur des Erinnerns und des Erzählens, beides braucht die Ruhe des Gehens der Gedanken, ob es sich nun um Mythen und Märchen oder um erinnerte Lebensgeschichte handelt.

Kleiner Exkurs I: Der vor kurzem verstorbene deutsche Schriftsteller Jurek Becker schrieb angesichts der Misere grassierender Radio-Kurzatmigkeit: "Seit meiner Kindheit war mir Radio ein wichtiges Ding. Ich hatte niemanden, der mir Geschichten erzählte, sämtliche Großmütter und Onkel und Tanten waren mir abhanden gekommen, also habe ich mich hingesetzt, das Radio eingeschaltet und solche Sender gesucht, auf denen geredet wurde."

Vielleicht ist uns das Geheimnis des Lebens nicht zuletzt deshalb so entfernt und entschwunden, weil das innere Ohr betäubt ist von der Flüchtigkeit und Nichtigkeit formatierter Soundtapeten. Erzählen und Zuhörenbrauchen und bewirken Intimität und menschliche Nähe, die selbst in einem technischen Medium möglich sind, wenn "das Herz zu Herzen spricht" (Newman), und dafür braucht es - man kann es nicht oft genug sagen - die Dauer.

Kleiner Exkurs II: Zur Einübung des Horchens und Zuhörens betrachte man einmal lange die Figur des hl. Josef im Flügelaltar von Kefermarkt. Wie sich der Mantel über der linken Schulter auffaltet zu einem großen, staunenden Ohr und das Erhörte sich spiegelt im Gesicht ...

Radiokultur hat gewiß auch mit Nützlichkeit zu tun, ohne Frage. Doch diese hat Anwälte genug und ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Was ihr, der Radiokultur, die ich meine, aber nicht abgesprochen werden darf (wie dem Theater als "moralischer Anstalt"), ist ihre Rolle als Provokation gegen den Strich des Nur-Gefälligen und als Animation - gemeint als Beseelung und nicht als Animierdame zu Genuß und Konsum - , als Verweis auf Sinnlichkeit und Übersteigungsmöglichkeit von Leben und Alltag.

Radiokultur kann der gerupften Seele wieder Flügel wachsen lassen, wenn sie die Poesie hütet und kraft der Stimmungen, die sie bewirken kann, Phantasie freisetzt und sich - in redlicher Weise - vor Gefühlen nicht scheut. Radio, so haben amerikanische Experten erkannt, ist weniger ein Medium des Gelächters als ein Medium des "Gerührtseins", was natürlich mit jener unheilvollen Tendenz zum Sozialvoyeurismus nichts, aber schon gar nichts zu tun hat. Radiokultur zeigt sich nämlich auch darin, wie mit dem Leid der Menschen umgegangen wird, ob es als Kostbarkeit respektiert und weder ästhetisiert noch trivialisiert wird.

Schließlich - doch diese Überlegungen erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit - hat Radiokultur sehr viel mit Religion zu tun. Religion im Radio steht und fällt mit der überzeugenden Ehrlichkeit und Authentizität des Gesagten, nirgendwo sonst decouvrieren sich falsche Töne so gnadenlos - und nirgendwo sonst hat das sogenannte Zeugnis eine so große Chance, oft auch, und manchmal sogar gerade dann, wenn von Gott oder Kirche gar nicht die Rede ist. So schrieb einmal ein Hörer an die Redaktion der Sendereihe "Menschenbilder": "Immer wieder erlebe ich die Ausstrahlung dieser Lebenszeugnisse, wenn durch die Erzählung von Lebensgestaltung und im Erinnern des Gehörten eine starke spirituelle Kraft fühlbar wird ... oft sprechen hier Menschen stellvertretend für andere, die sich vielleicht nicht so gut artikulieren können, oder bereits - aus Resignation? - verstummt sind."

Auch diese Form von Radio braucht die Dauer. In zwei Minuten dreißig ist es nicht möglich, Lebenswissen, Lebensleid und Lebensfreude nachvollziehbar zu machen.

Die Weitergabe von Religion und Glaubenserfahrung hat in allen Kulturen - und vor allem in der jüdisch-christlichen Kultur mit Erzählen zu tun.

In einem weiter gefaßten Sinn kann Radiokultur sogar etwas mit Seelsorge zu tun haben, wenn auch der Begriff Seelsorge nicht zu eng gefaßt wird, sondern "auf den ganzen Menschen zielt", wie der Theologe Ferdinand Reisinger schreibt, "eine ganze Palette von Kultur ist da im Spiel: Lebenskultur, Lebenssorgen, Lebenserfahrung und Auflebensmöglichkeiten ... damit auch die vielen Behinderungen des Menschen."

All dieses wird von einer Radiokultur ernsthaft und liebevoll wahrgenommen, wenn dieses Medium seine sinnvermittelnde Rolle nicht aufgeben will.

Der Autor ist Leiter der Abt. Religion im ORF-Radio.

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