Lockruf der Industriestadt

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Edvard Munch-Ausstellung in Chemnitz (Sachsen), einer Stadt, die dem Künstler sei fast 100 Jahren verbunden ist.

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Edvard Munch-Ausstellung in Chemnitz (Sachsen), einer Stadt, die dem Künstler sei fast 100 Jahren verbunden ist.

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Werke des großen norwegischen Malers Edvard Munch (1863 bis 1944) sind nicht selten zu sehen. Dennoch sind die über 150 Werke (davon 61 Gemälde), die jetzt die Kunstsammlungen im sächsischen Chemnitz zeigen können, eine Reise wert. Nicht nur wegen der Entdeckung, daß Munch neben seinen nordisch-düsteren Bildern von Angst, Verzweiflung, Eifersucht, Todesahnung auch Helles, Freundliches gemalt hat. Also nicht nur das erschütternde "Kranke Mädchen" , sondern auch frohe, gesunde Kinder und elegante Porträts. Bei der Schwierigkeit, überhaupt Leihgaben aus öffentlichen und privaten Sammlungen in aller Welt zu bekommen, ist die planmäßige Betonung dieses Aspekts eine besondere Leistung. Die entscheidende Besonderheit der Ausstellung steht schon im Titel "Edvard Munch in Chemnitz". Es gelang nämlich wirklich, den Künstler aus dem hohen Norden in das "Sächsische Manchester" zu locken, diese scheinbar so graue Industriestadt, die aber bei aller gewerblich-kommerziellen Rührigkeit auch ein Bedürfnis hatte, die Künste zu nähren. Ähnlich manchen britischen Städten und solchen im Ruhrgebiet.

In dem für Munch so wichtigen Jahr 1905 wurde in Sachsen die Künstlervereinigung "Die Brücke" mit den Chemnitzern Hecke, Kirchner und Schmidt-Rottluff gegründet. Der Industrielle Herbert Eugen Esche hatte soeben mit seiner Familie die geräumige Villa bezogen, die samt Möbeln, allen Gebrauchsgegenständen bis zur Visitenkarte Henry van de Velde entworfen hatte. Esche lud den damals noch wenig bekannten Munch ein, seine Kinder zu malen. Vermittler van de Velde, der Munch in Weimar bei Harry Graf Kessler kennengelernt hatte. Munch hielt sich drei Wochen scheinbar müßig im Hause Esche und in Cafes auf und malte dann in kürzester Zeit sieben Porträts von der Familie Esche.

Im selben Jahr 1905 tat eine Munch-Ausstellung in Prag unerhörte Wirkung. Die tschechischen Maler, die Wien nicht mehr als ihr künstlerisches Zentrum sahen, hatten ihren neuen Leitstern gefunden. So wie auch die "Brücke"-Maler alles taten, Munch zur Teilnahme an ihren Ausstellungen zu bewegen. Bis 1930 blieben die Esches mit Munch im Kontakt und erwarben noch zwei Gemälde. Schon 1906 zeigte die "Kunsthütte", das noch bescheidene Chemnitzer Haus für neue Kunst, etwa 20 Munch-Bilder, die mit Hilfe von Kunsthändlern auf die Reise geschickt worden waren. Das Publikum reagierte heftig, meist negativ.

Häufiger Gast In den kargen Jahren nach dem Ersten Weltkrieg gelang es schon 1921 wieder, eine Munch-Ausstellung auch in einer Chemnitzer Kunstgalerie zu zeigen. Treibende Kraft war der Berliner Kunsthändler Paul Cassirer. Unter den etwa zwei Dutzend Bildern war auch das fast zwei Meter hohe "Herrenbildnis", ein Porträt Walther Rathenaus, der im Jahr darauf ermordet wurde.

1910 war des Städtische Museum fertig geworden, das jetzt mit Opernhaus und Jacobikirche von drei Seiten den "Theaterplatz" umfaßt. 1926 hatte man hier Räume für Gegenwarts-Kunst eingerichtet, die von Karl Schmidt-Rottluff farbig gestaltet wurden. Hier fand 1929 die größte Munch-Ausstellung Platz. Der Leiter der Kunstsammlung, Friedrich Schreiber-Weigend, hatte schon 1926 Munch in Chemnitz begrüßen können. Nun zeigte er im Sommer 1929 über 80 Graphiken und im Spätherbst nochmal ebeno viele und dazu sechzig Gemälde. In Varianten kam diese Ausstellung auch nach Dresden, Leipzig und Hannover. Ähnlich große Munch-Ausstellungen haben in jener Zeit nur Berlin und Mannheim gesehen.

Genau 70 Jahre später wurde nun in Chemnitz eine umfangreiche Schau eröffnet. Dabei hat man neben dem erwähnten Auswahl-Kriterium auch versucht, jene Bilder zu versammeln,die damals am selben Ort zu sehen waren und vielfach den Besitzer gewechselt haben. Die Familie Esche konnte gegen Ende des Zweiten Weltkriegs in die Schweiz flüchten. Ihr Haus ist von der Besatzungsmacht ruiniert worden und wird jetzt sorgfältig erneuert (ein Teil der Inneneinrichtung konnte im Museum sichergestellt werden). Die "Herbert Eugen Esche Stiftung" Zürich hat großzügig Leihgaben geschickt und war auch durch Familienangehörige vertreten, als Bundespräsident Johannes Rau die Ausstellung eröffnete.

In Fachkreisen hat die weitgehende Rekonstruktion der früheren Ausstellungen (im Katalog nachzulesen) am meisten Eindruck gemacht. Die Unterlagen waren sehr lückenhaft. So kam es zu einer wahren "Kooperation" mit dem Munch-Museet in Oslo, das als Dank für Leihgaben diese wissenschaftliche Arbeit bekam. Mit einer solchen Ausstellung, in der die Direktorin Ingrid Mössinger nicht nur schöne Bilder versammelt, sondern auch ein Konzept verwirklicht hat, kann sich Chemnitz ebenso als Kunststadt ins Gespräch bringen, wie mit den Leistungen des Opernhauses, das heute mit Wagners "Ring" halb Sachsen und Nordbayern als Einzugsgebiet gewinnt - wobei die Chemnitzer es schwer haben, an Karten zu kommen.

Bis 20. Februar 2000

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