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Das Privileg der Abgeschiedenheit: eine Entdeckung in der Toskana.

Wer in diesem Sommer seine weiße Haut nach Cesenatico, Rimini, Riccione oder Cattolica zu tragen gedenkt, sollte einen halben Tag für eine kleine Entdeckungsreise weg vom Brutzelstrand, ins Landesinnere, reservieren.

Von Pesaro an der mittleren Adria fährt man eine Stunde durch die Marken. Drei Kilometer nach der Provinzgrenze, bereits in der Toskana, erreicht man auf einer kurvenreichen Straße den Markt Sestino: 600 Einwohner, mit den umliegenden Weilern 1400. Ein Straßendorf: Häuser aus Stein, zwei Kirchen, ein paar Krämerläden, eine Schule, ein Altersheim, eine Apotheke. Im Sommer ein trockenes Flussbett. Hunde bellen, Zikaden schnarren, nach Einbruch der Dunkelheit ist das Quakkonzert der Frösche ohrenbetäubend.

Rinder aus Attilas Herden

Sestino liegt im Apennin mit seinen Ulmen, Eichen, Buchen, Zedern und Zypressen, die die Engländer im 18. Jahrhundert aus Persien mitbrachten. Auf gerodeten Steilhängen sind weiße Punkte auszumachen: chianine, schneeweiße Rinder. Sie entstammen nachweislich den Versorgungsherden Attilas. Von der Viehzucht und der Holzwirtschaft leben die Menschen hier. Und von Kleinindustrie, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg angesiedelt hat. Abwechslung bringen Hochzeiten, Taufen, Beerdigungen und das Fernsehen. In dieser Sippenkultur ist jeder mit jedem verwandt, jeder weiß, was im Dorf los ist. Fremde kommen selten.

Sie sollten kommen, denn Sestino zeigt unwiderlegbar den Unterschied zu Dörfern nördlich der Alpen. Wo man hier gräbt, kommt die Antike aus der Erde. Laut italienischem Denkmalschutzgesetz müssen bei Funden sofort Archäologen gerufen werden, und wenn die nicht gleich Zeit haben zur Begutachtung, kann es schon einmal zehn Jahre dauern, bis eine gewünschte Baugenehmigung erteilt wird.

Antike überall

Die Bevölkerung antwortet pragmatisch: Entdeckt jemand eine Marmorstatue oder einen Bronzegegenstand, gräbt er den Fund wieder ein oder heimlich aus - und dann wird zügig gebaut. So war es zumindest, ehe Gian Carlo Renzi 1998 Bürgermeister wurde. Er hat einen Gesinnungswandel herbeigeführt, indem er einen Gebäudekomplex auf drei Ebenen herrichten ließ, in dem sich 2.500 Jahre Geschichte und Kunst spiegeln.

Die Dramaturgie der Schauräume ist gekonnt, denn auf dem Weg zur Hauptüberraschung wird der Besucher mit versteinerten Haifischzähnen und Schnecken eingestimmt auf die wechselvolle Geschichte des Ortes, der auf aufgefaltetem Meeresboden steht. Im Treppenhaus schildern Fotografien das Leben der Frauen im 19. Jahrhundert: Wäschewaschen im Fluss, Feldarbeit auf den kargen Lehmböden ... Und dann der Schritt in einen rot und schwarz ausgekleideten Raum, in dem scharf eingestellte Lichter wie auf einer Bühne weiße Statuen aus sechs Jahrhunderten hervorheben. Eleganter Faltenwurf, Carrara-Marmor, aber auch lokaler Stein; Reste eines antiken Mausoleums, ein kleiner Rundtempel, eine Venusfigur mit einer Muschel vor der Scham, aus der einst Wasser floss.

Ein kunstvoll verzierter etruskischer Spiegel aus Sestino ist heute in Florenz zu bewundern; eine eineinhalb Kilo schwere bronzene Barren-Platte mit der Abbildung eines weißen Rindes (eine Opfergabe statt des realen Tieres), wurde an das Antikenmuseum nach Berlin verkauft. Ein antiker Männerkopf und ein Foto dieser Büste im Profil, aufgenommen zusammen mit einem heute Lebenden, dem Bürgermeister: Identisch - 2000 Jahre die gleichen Gene ...

Spuren der Etrusker

Ein bronzener Fuß bestätigt, was die Alten von Sestino stets behaupteten: Sie hätten als Kinder noch erlebt, wie große Bronzefiguren im Boden gefunden worden seien. Die Etrusker stellten sich dem römischen Expansionsdrang nicht entgegen und erhielten dafür den Status eines "municipium", einer Stadt. Auf Stelen haben Bürgermeister vor zwei Jahrtausenden ihre Taten schriftlich verewigen lassen, erzählt der jetzige sindaco lächelnd.

Mächtige Männer wurden hier geboren, die in Ägypten und Gallien das römische Heer befehligten. Es gab "Industriellen-Familien", die riesige Töpfereien besaßen und diese Tatsache auf Grabsteinen festhielten, als wäre es Agnelli ...

Neuer Lokalstolz

Auch diese Grabsteine hätten abtransportiert werden sollen, aber da war der Lokalstolz der Sestiner schon erwacht. Von den Karren holten sie die Steine wieder herunter. Die große Geschichte ist in Italien mit der Antike nicht zu Ende. Nach dem Untergang des römischen Weltreichs trat die Kirche als gestaltende Kraft auf. Der Altarsockel der Kirche von Sestino war ursprünglich ein Opferstein des Lokalgottes namens Sestino. Die romanische Krypta hat Erdbeben überstanden, ein Raffael-Bild hingegen ist verschwunden.

Sestino zeigt im Kleinen die heutige Lage Italiens: Ein Land, das völlig verblödete tv-Programme ausstrahlt, in dem in fragwürdiger Manier politische und Medienmacht verquickt sind, aber auch ein Land, in dem verantwortungsvolle, gebildete Leute den Glauben nicht verloren haben, dass der Mensch aus reicher Vergangenheit Zuversicht, Freude und Begeisterung gewinnen kann.

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