Lust und Last des Fragments

Werbung
Werbung
Werbung

Das Österreichische Literaturarchiv vermittelt im Prunksaal der Nationalbibliothek spannende Einblicke in die Entstehungsprozesse von Literatur.

Vor 15 Jahren wurde das Österreichische Literaturarchiv als eine der jüngsten Sammlungen der Österreichischen Nationalbibliothek gegründet, und in diesem Sommer gestaltet es deren Prunksaal-Ausstellung. Sie gibt Einblick in zentrale Werke der literarischen Moderne Österreichs, die ihrerseits die internationale Moderne entscheidend mitgeprägt hat. Dabei fällt auf, dass viele gerade der herausragenden Werke Fragment geblieben sind: die Romane Franz Kafkas, Robert Musils "Mann ohne Eigenschaften" oder, um ein späteres Beispiel zu nennen, Ingeborg Bachmanns Todesarten-Zyklus. Nicht immer hat, wie bei dem letztgenannten Werk, ein früher oder unerwarteter Tod oder ein Scheitern des Autors den Abbruch des Schreibens bewirkt. Oft ist das Fragment ein offener oder versteckter Protest gegen das Diktat einer von der Tradition vorgegebenen geschlossenen Form. Thomas Bernhard hat diese Rebellion im (sehr wohl abgeschlossenen) Prosaband "Alte Meister" auf den Punkt gebracht: "Die höchste Lust haben wir ja an den Fragmenten, wie wir am Leben ja auch dann die höchste Lust empfinden, wenn wir es als Fragment betrachten, und wie grauenhaft ist das Ganze und ist uns im Grunde das fertige Vollkommene." Essays im hochinteressanten Katalogbuch, u.a. von László Földényi und Wendelin Schmidt-Dengler, geben Einblick in den Stellenwert des Fragments seit dem 18. Jahrhundert und - an zahlreichen Beispielen argumentiert - in der österreichischen Literatur.

Darüber hinaus will die Schau - wie schon die Ausstellung "Der literarische Einfall" vor einigen Jahren - die unterschiedlichen Entstehungsprozesse von literarischen Werken dokumentieren. Der akribische Pedant Elias Canetti und das kreative Chaos von Friederike Mayröcker - der Kontrast der Arbeitsweise wird schon beim Blick auf die in der Ausstellung nachgestellten Schreibtische deutlich. Heimito von Doderers genau gezeichnete Baupläneseiner Romane sind fast selbst ein Kunstwerk. Über Kopfhörer sind Dichterstimmen abrufbar - auch selten gehörte wie die von Hermann Broch. Videos zeigen die Entstehung eines Jandl-Gedichtes. Ein schreiendes Plakat warnt vor Mädchenraub - es macht deutlich, wie Ödön von Horváth im zwei Jahre dauernden Entstehungsprozess seines Stückes "Geschichten aus den Wiener Wald" populäre Mythen seiner Zeit aufgegriffen hat: Eine Quelle war der 1927 in Berlin angelaufene Film "Mädchenhandel - eine internationale Gefahr". Eines der Fragmente aus der Entstehungsgeschichte zeigt, wie Horváth diesen Film aufgegriffen hat, ein anderes wirft ein Licht in die Psyche einer Fräulein-Figur und ist für die Interpretation des Stückes von besonderer Wichtigkeit.

Diese ganz und gar nicht nur für Literaturfachleute konzipierte Ausstellung macht den Stellenwert des Literaturarchivs deutlich und ist ein sinnliches Literaturerlebnis, das man nicht versäumen sollte.

Der Teil und das Ganze

Bausteine der literarischen Moderne in Österreich

Prunksaal der Österreichischen Nationalbibliothek, Josefsplatz 1, 1015 Wien

www.oenb.ac.at

Bis 30. 9. tägl. 10-16, Do 10-19 Uhr

Katalogbuch, hrsg. von Bernhard Fetz und Klaus Kastberger, Zsolnay Verlag, Wien 2004, 300 S., kart, e 18,40

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung