Mädchenopfer in Täterrollen

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Wie Natascha Kampusch und Arigona Zogaj von Opfern zu Tätern gemacht wurden: mediale Inszenierung zwischen Hexenverbrennung und Grimm#schen Märchen.

Was haben Natascha Kampusch und Arigona Zogaj gemeinsam? Beide sind junge Frauen, die doppelt zum Opfer gemacht wurden. Über die Fälle berichteten Medien exzessiv und bei beiden wurde die Rolle von Opfer und Täter zeitweise vertauscht. Dass Kampusch mögliche Gelegenheiten zur Flucht verstreichen ließ, rückte sie ins Zwielicht. Der Fall Zogaj wurde von untergriffigen Kommentaren und hasserfüllten Briefen begleitet. Nach dem Motto #Recht statt Menschlichkeit# machte die Boulevardpresse Stimmung.

Welche subtilen Mechanismen stehen hier dahinter? Was erzählt der öffentliche Umgang mit Kampusch und Zogaj über uns? Eine allgemeine Erklärung liefert die Sozialpsychologie. #Um die eigenen Ängste in den Griff zu bekommen, macht man die Opfer zu Tätern#, meint der Medienpsychologe Peter Vitouch. #Man denkt sich: Der Andere wird schon irgendetwas falsch gemacht haben! Wenn ich dann davon ausgehe, dass ich richtig handle und jeder das bekommt, was er verdient, muss ich mich nicht mehr fürchten.# Im Fall Zogaj sucht man den Übeltäter in der Familie # wer seine Kinder illegal ins Land bringt, so die empathiefreie Logik, braucht sich über eine Abschiebung nicht zu wundern.

Entscheidend sei auch der Umgang mit der Opferrolle. #Natascha Kampusch etwa hat sich nicht so verhalten, wie man es von einem Opfer erwartet#, sagt Vitouch. Statt verletzt, hilfsbedürftig und schwach, hat sich Kampusch selbstbestimmt und autonom, mitunter kämpferisch gegeben. Die Tränen, die sie im ersten TV-Interview zeigte, waren nicht der Emotion, sondern ihrer Lichtempfindlichkeit geschuldet. In Kampuschs Auftritten fehlten damit viele typisch weibliche Attribute.

Weibliche Superkräfte

Die Film- und Medienwissenschaftlerin Andrea Braidt wirft einen genderkritischen Blick auf das Phänomen: #Während männliche Opfer sehr schnell aus der passiven Rolle heraus in eine Heldenrolle inszeniert werden, verträgt es die mediale Repräsentationspolitik scheinbar nicht, das Heldenhafte von Frauen, die existenzbedrohende Situationen durchgestanden haben, zu inszenieren.# Das sei ein #Beleg dafür, dass die Grenze zwischen Heilige und Hure in der Darstellungslogik des Weiblichen immer noch extrem porös ist#. Tatsächlich wurde Kampusch nach ihrer Flucht auf einem Magazincover in Marienpose abgebildet. Als Kontrapunkt rücken Fotos, auf denen sie in der Disco einen jungen Mann küsst, ihre Sexualität ins Zentrum. Auch bei Arigona Zogaj war die Beziehung zu ihrem Freund ein Thema # bis hin zum abgelichteten Abschiedskuss am Flughafen.

Das Augenmerk gilt durchgängig der erwachenden Sexualität von zwei jungen Frauen, denen man beim Erwachsenwerden zusieht. Beide Opfer werden als genuin weibliche Opfer betrachtet, das Geschlecht wiederum im Dispositiv der Sexualität verhandelt.

In der psychoanalytischen Theorie steht der weibliche Blick seit jeher mit männlichen Kastrationsängsten und Entmächtigungsfantasien im Zusammenhang. Der weibliche Blick ist jener, über den man, gemeint ist der Mann, keine Macht hat. Die Beispiele Kampusch und Zogaj evozieren Bilder aus der Kulturgeschichte, führen zu anderen Narrationen und legen ein kulturelles Unbewusstes frei.

Angst vor der Sexualität

Eine solche Spur führt etwa zu Heinrich Bölls #Die verlorene Ehre der Katharina Blum#, in der die Protagonistin vom deutschen Boulevard als kaltherzige, hochgradig sexualisierte Frau denunziert wird. Man kann freilich noch tiefer in die Vergangenheit zurückblicken: Weibliche Sexualität, die als dämonisch # zumindest aber bedrohlich # aufgefasst wird, reicht von den epidemischen Sexualneurosen der Hexenverbrennungen zu den gequälten Mädchen in den Märchen der Brüder Grimm, von #Schneewittchen# bis zu #Frau Holle# oder dem vom Wolf verfolgten #Rotkäppchen#. Selbst in der Schöpfungsgeschichte spielt Eva die Rolle der Täterin, bildet mit der Schlange eine Allianz und wird Adam zum ersten Opfer weiblicher Lust gemacht. Der männliche Blick Gottes ruht forthin auf den nackten, sexualisierten Körpern etwa auch in der kunsthistorischen Darstellung der Genesis. Insbesondere in den Grimm#schen Märchen strahlen Mädchen eine große Verführungskraft aus. Das weibliche Pendant zum vielzitierten Ödipus: Ein Elektra-Komplex, festgeschrieben in deutschem Volksgut. Böse Schwiegermütter reagieren auf die aufkeimende Sexualität der Töchter mit Neid, Verbannung oder Vergiftung. #Kein Wunder, dass in Märchen Königinnen ihre Töchter in den Tod zu hetzen versuchen#, lässt J.M. Coetzee seinen Protagonisten in #Schande# sagen. Heißt die heutige Form etwa medialer Rufmord und Abschiebung? Geht es um die Verbannung Schneewittchens hinter die sieben Berge?

Die Rolle der Medien

Beim Umschlagen der Begriffe von Opfer und Täter in ihr jeweiliges Gegenteil spielen die Massenmedien eine vermittelnde und verstärkende Rolle. Ihnen kommt die Funktion zu, empirische Geschehnisse überhaupt zu Ereignissen werden zu lassen, ihnen ein narratives Kostüm anzupassen. Das Paradoxe: Erst eine Analyse medialer Logiken führt zur Analyse realer Ereignisse. Das Reale ist Außerhalb des Medialen gar nicht mehr zu denken.

Bemerkenswert, wie Kampusch selbst von Medien sozialisiert wurde. Ihr Peiniger ließ sie Ö1 hören und Qualitätszeitungen lesen. Als die junge Frau schließlich in Fernsehstudios auftritt, staunt man über ihre kultivierte Art zu reden. Selbst das deutschsprachige Feuilleton äußert sich bewundernd über Eloquenz und Bildung des Mädchens, das jahrelang in Gefangenschaft gelebt hat. Solche Charakterisierungen lassen den Entführungsfall zum erfolgreichen Bildungsroman werden. Der Eindruck entsteht, als habe ein gestrenger symbolischer Vater in vielem gar nicht so falsch gehandelt. Fraglich bleibt, ob ein männliches Opfer ebenso zum Schwärmen über individuelle Bildungswege angeregt hätte.

Einen medial ausgeschlachteten Bildungsaspekt findet man auch bei Arigona Zogaj: Trotz erfolgreicher Integration werden mittelmäßige oder schlechte Schulnoten als Zeugnis dafür gewertet, dass die Immigrantin ein Aufenthaltsrecht nicht verdient. Ein Verweis darauf, dass ein junges Mädchen sich gar nicht richtig bemüht und lieber mit dem Freund diverse, womöglich unanständige Dinge anstellt?

Beide mediale Rollenverkehrungen aktualisieren erstarrte, antiquierte Geschlechterzuschreibungen. Bereits das Interpretieren von Dingen, Personen und Phänomenen macht uns zu explizit handelnden Wesen. Dass der Kampf um semantische Zuschreibungen nicht nur die abstrakten Denkspiele der Philosophien betrifft, sondern ganz reale Macht und Effekte zeitigt, zudem Affekte, Entscheidungen und Tragödien hervorbringt, lässt sich an den Fällen Kampusch und Zogaj nur allzu gut ablesen.

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