Märchen vom ewigen Leben

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"Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute." So endeten früher die Märchen. Die heutigen aber gehen anders. Die California Cryobank ist die größte amerikanische Samenbank. In ihren Tiefkühltruhen schläft mittlerweile die Population einer Großstadt, die noch nicht gegründet ist und die man Death City oder Life Town nennen wird, je nachdem.

Ihren Samen in der California Cryobank deponiert haben junge und alte Herren, solche, die sich für besonders schön halten, andere, denen hingegen ihre Intelligenz aufhebenswürdig erscheint, und schließlich welche, die ganz durchschnittlich sind und gerade deswegen glauben, Anspruch auf Ewigkeit zu besitzen.

Um ungefähr 500 Dollar pro Jahr bleibt der Samen, in dem sie alle wesentlichen Eigenschaften ihrer selbst enthalten wähnen, eingefroren, so lange, bis sich die dafür vorgesehene Frau meldet und ihn sich ganz ohne die unanständigen Regungen sexuellen Begehrens einpflanzen lässt.

Jetzt aber ist Krieg. Und die Soldaten, die in den Irak ziehen, um zu töten, müssen fürchten, dabei womöglich selber zu sterben. Oder sich eine Verletzung zu holen, die ihre Fähigkeit zur Fortpflanzung zerstört. Oder eine seelische Deformation zu erleiden, die sie, heimgekehrt zur liebenden Gattin, keinerlei sexuelle Wünsche mehr hegen oder gar den Traum vom familiären Glück vergessen lässt. Immerhin sind aus dem ersten Golfkrieg sympathische Boys von nebenan mit den seltsamsten Macken zurückgekommen. Beim zweiten hat die California Cryobank patriotisch gedacht und allen Soldaten einen Kriegsrabatt eingeräumt. Ein paar Tausend haben, ehe sie ins Feld zogen, tatsächlich ihren Samen abgegeben. Und brauchen den Tod in der Schlacht nicht mehr zu fürchten. Denn wenn sie gestorben sind, werden sie noch Väter.

Der Autor ist Schriftsteller und Literaturkritiker in Salzburg.

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