Man Wird aus mir eine Xanthippe machen

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Sofja Tolstaja, Schriftstellerisch Begabt, Vom Berühmten Gatten Jedoch Mit Publikations-verbot Belegt, Kommt Erstmals Selbst Zu Wort - Und Korrigiert Ihr Bisher Negatives Image.

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Sofja Tolstaja, Schriftstellerisch Begabt, Vom Berühmten Gatten Jedoch Mit Publikations-verbot Belegt, Kommt Erstmals Selbst Zu Wort - Und Korrigiert Ihr Bisher Negatives Image.

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Am 21. Januar 2010 kommt der Film "Ein russischer Sommer" in die deutschsprachigen Kinos. Er basiert auf dem Roman "The Last Station. A Novel of Tolstoy's Final Year", den der amerikanische Literaturprofessor und Autor von Biografien, Essays und Lyrik, Jay Parini, vor 18 Jahren veröffentlichte. Rechtzeitig zur Verfilmung ist das Buch auf Deutsch erschienen: "Tolstojs letztes Jahr". Der Autor hat die tatsächlich existierenden Tagebücher Tolstojs, seiner Gattin und drei weiterer Personen herangezogen, um das letzte Lebensjahr des greisen russischen Weisen zu rekonstruieren.

"Man wird aus mir einmal eine Xanthippe machen", schrieb Sofja Tolstaja illusionslos. 48 Jahre hatte sie mit ihrem um 16 Jahre älteren weltberühmten Schriftstellergatten, dem Gewissen Russlands, das Leben geteilt. In allen bisher erschienenen Biografien über Tolstoj kommt sie schlecht weg, so auch bei Parini. Breit stellt er den zermürbenden Streit zwischen den Eheleuten dar. Tolstoj hat längst das Romanschreiben hinter sich gelassen zugunsten sozialkritischer Schriften und der Suche nach einem heiligmäßigen Leben. Seine Frau will die Rechte an seinen Büchern für ihre große Familie sichern, während ein Freund des 82-Jährigen, Oberhaupt einer riesigen Gemeinde von Tolstoj-Anhängern, die Rechte für das russische Volk beansprucht, das in billigen Volksausgaben Tolstojs Bücher lesen können soll. Hassausbrüche zwischen den Eheleuten, Schnüffeleien der Gattin in Tolstojs Tagebüchern, beschämende Szenen, in denen sie ihn vor Gästen als verkappten Homosexuellen bloßstellt, veranlassen den Gepeinigten zur Flucht von seinem Gut Jasnaja Poljana, weil es ihm zur emotionalen Folterkammer geworden ist. Weit kommt er nicht. In einem Bahnwärterhäuschen der bis dahin unbekannten Station Astapowo erkrankt er an Lungenentzündung. Erst als er das Bewusstsein verloren hat, lässt man seine Frau zu ihm.

Wer war diese Frau? In seiner Novelle "Die Kreutzersonate", der Geschichte einer Ehehölle, hatte Tolstoj geschrieben: "Wir waren gleichsam zwei aneinander gekettete, sich gegenseitig hassende Sträflinge, von denen jeder dem anderen das Leben vergiftete und bemüht war, das nicht zu sehen." Sofja Tolstaja antwortete in einem Roman, den sie nie veröffentlichte ("Eine Frage der Schuld", erschienen 2008 aus dem Nachlass):"Sollte denn nur darin unsere weibliche Berufung bestehen, vom körperlichen Dienst für den Säugling zum körperlichen Dienst für den Mann überzugehen? Und das abwechselnd -immerfort! Wo bleibt denn mein Leben? Müde und zerquält, verlösche ich."

Verdoppelte Kränkungen

"Sie haben sie nicht geschont", sagte der Arzt zu Graf Leo Tolstoj, als seine 29-jährige Ehefrau Blut hustete. Tolstoj hat sie nicht nur als Frau nicht geschont -er schwängerte sie in 26 Jahren sechzehnmal. Er überließ ihr auch weitgehend die Erziehung der Kinder, die Bewirtschaftung seines Gutes, das wiederholte Abschreiben und die Herausgabe seiner umfangreichen Werke. Seine Tagebücher hielten jeden Streit zwischen den Ehepartnern fest, und da sie einander ihre Aufzeichnungen über Persönlichstes zu lesen gaben, erlebte sie jede Kränkung doppelt: einmal tatsächlich, ein zweites Mal, indem sie las, was er von ihr hielt. Man wird nicht fündig, wenn man nach Sofja Andrejewna Tolstajas Geburts-und Sterbedatum im Internet sucht (1844-1919). Sie tritt erst auf die Bühne der Bekanntheit mit ihrer Heirat im Jahr 1862, und sie verschwindet von dieser Bühne 1910, als Tolstoj auf der Flucht vor ihren hysterischen Ausbrüchen stirbt. Doch jetzt haben zwei keineswegs rabiate Feministinnen, die Slawistin Ursula Keller und die Autorin Natalja Sharandak, die zum Großteil unbekannten, nur als Manuskripte erhaltenen Aufzeichnungen Sofja Tolstajas studiert und entlarven das Bild der Xanthippe als fahrlässige Verzerrung der Tolstoj-Biografen. Sie betten das Leben dieser Frau in die Geschichte Russlands der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein, als die Leibeigenschaft der Bauern 1861 aufgehoben wurde, nicht jedoch jene der Frauen.

Das Kapital der 18-jährigen Braut Tolstojs, Tochter des Leibarztes des Zaren, war eine außergewöhnlich gute Bildung: Sie studierte privat Französisch, Englisch und Deutsch. Diesem romantischen jungen Mädchen gibt der 34-jährige Bräutigam eine Woche vor der Hochzeit seine Tagebücher zu lesen, die all seine sexuellen Ausschweifungen enthalten. Der Schlag sitzt, sie heiratet ihn trotzdem, erkennt bald, dass die körperliche Liebe ihr ein Abscheu ist, während er sich enttäuscht an seine lustvollen Begegnungen mit käuflichen Frauen erinnert. Sie tut trotzdem ihre eheliche Pflicht und viel, viel mehr, bis sich Tolstoj nach fast zwanzigjähriger Ehe von der Schriftstellerei abwendet, ein frommer Mann werden will, das einfache Leben der Bauern glorifiziert, sich gegen den Luxus der eigenen Familie auflehnt, kurz: sein Leben radikal ändert. Er wird zum Eiferer. Eine unüberbrückbare Kluft tut sich auf zwischen den Ehegatten. Sofja Andrejewna möchte ein geordnetes Familienleben statt der immer größer werdenden Jüngerschar, die sich ungewaschen und mit asketischer Miene um ihren Mann drängt und der Familie sogar die Rechte an seinen Werken entziehen will. Die Ehefrau schreibt: "Die physische Kraft und Erfahrung meines Mannes in Liebesdingen -seine übergroße Leidenschaft und Manneskraft - erdrückten mich physisch."

Patriarchalisches Frauenbild

"Genial begabt, klug sowie älter und erfahrener in geistigen Dingen, erdrückte er mich mit seinen Ansichten über Moral. Und wie groß die Energie meiner Natur auch gewesen sein mag, ich lebte lange, lange nicht mein eigenes Leben, meinen eigenen Willen, sondern als die Gattin Tolstojs, ohne eigene Initiative, ohne meiner eigenen Persönlichkeit Ausdruck zu verleihen Er brauchte eine Frau, passiv, gesund, sprachlos und willenlos." In ihren Aufzeichnungen tritt er als Tyrann hervor, der ihr die Lebensfreude nahm durch seine Depressionen, durch die Eintönigkeit des Lebens auf dem Land, seine Sprunghaftigkeit, sein patriarchalisches Frauenbild, dessen Opfer auch seine Töchter wurden. Sofja Tolstaja, selbst schriftstellerisch begabt und sehr produktiv, doch von ihrem Ehemann mit Publikationsverbot belegt, kommt also jetzt zum ersten Mal selbst zu Wort. Was sie zu sagen hatte, passt nicht zu dem Bild, das seine Verehrer von ihm zeichneten. Sie starb vor 90 Jahren, am 4. November 1919.

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