Manila, Modell der Großstadt

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Ein Versuch, den täglichen Megalopolis-Horror und die Probleme des Jahrhundert-Endes in einem Roman einzufangen.

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Ein Versuch, den täglichen Megalopolis-Horror und die Probleme des Jahrhundert-Endes in einem Roman einzufangen.

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Die Geister von Manila sind ausgewachsene Monster. Die bösen Geister der asiatischen Stadt tragen das geschminkte Gesicht der Oberschicht und einen Rucksack voll Korruption. Die Geister der Bereicherung bereichern die moderne Apokalypse, transponieren die Bilder eines Breughel ins 21. Jahrhundert. Der Moloch Großstadt mordet weiter und findet keine Ruhe, seit Alfred Döblins "Berlin Alexanderplatz" und Rainer Maria Rilkes "tiefe Angst der übergroßen Städte, in die du mich gestellt hast bis ans Kinn".

Um ein solches Gebilde zu porträtieren, seine Gesichtszüge und Eigenschaften erkennbar zu machen, ist es für einen Autor nicht ratsam, zu den traditionellen Mitteln zu greifen. Mit ihnen lassen sich diese Wucherungen aus Gebäuden, Menschen, Straßen und Abfall nicht zwischen Buchdeckel, geschweige denn in eine Geschichte bannen.

Wie einfach war es auf unseren Plakatwänden zu lesen: Wien darf nicht Chicago werden. Der Stadt in den USA kam die undankbare Rolle zu, als Symbol für Verbrechen, Mord und Totschlag zu fungieren. Doch im Vergleich mit Manila nehmen sich europäische und amerikanische Großstädten wie geruhsame Barockgärten aus, über denen halt gelegentlich ein Raubvogel seine Kreise zieht oder ein Gewitter droht. Doch manchmal müssen wir weit reisen, bloß, um das Vertraute besser kennenzulernen. Denn bei genug gegenseitiger Mißachtung und mit dem richtigen Dünger kann auch ein Ziergärtlein Fürchterliches hervorbringen.

Der Journalist und Sachbuchautor James Hamilton-Pasterson hat Manila zum Modell genommen, um eine Großstadt zu porträtieren und vielleicht gleichzeitig die Entsprechungen in anderen Städten anzudeuten. In Manila zeigt sich die Fratze einer möglicherweise kommenden Gesellschaft, die wir erst in Ansätzen kennen, sogenannte Modernität, gepaart mit gefährlichem Aberglauben, mit Polizisten, die Selbstjustiz üben und mit Senatoren, die notorisch bestechlich sind.

In unseren Breiten können wir vor den Katastrophen noch die Augen schließen oder das Fernsehprogramm wechseln. In Manila ist die Flucht vor der Realität nur noch schwer möglich. Die Stadt zwingt zum Hinsehen, läßt keine Fluchtmöglichkeiten in Idyllen und geistige Reservate zu. "Verflucht zum Hinsehen": Dies wird bei der Ankunft jedem unsichtbar in den Paß gestempelt. Unter dem landenden Jet präparieren chinesische Spezialisten gerade Leichen zu Skeletten für anatomische Fachhandlungen in Europa und USA.

Können wir uns als einzelne westliche Wesen überhaupt in diese Stadt wagen, außer als Sextouristen? Es ist ein Zufall, daß der Engländer Prideaux mit uns Manila betritt, um Material über Amok zu sammeln. Dieses Phänomen hat Geschichte und wird seit dem 19. Jahrhundert, als es auch schon Dreck und Ungerechtigkeit in den Straßen gab, aber immerhin noch unversehrte Helden, gerne herbeigeschrieben.

Mit dem angegrauten Alt-68er Prideaux betritt der Leser die Stadt. Dies muß fast zwangsläufig zu einer Verharmlosung führen, einer Verniedlichung von Problemen, wobei die Form mit dem Inhalt nicht Schritt halten kann. Da hilft es auch nicht, wenn Prideaux scheinbar der Antriebskraft der Stadt - wer oder was läuft hier nicht Amok? - auf der Spur ist. Das Chaos in geordnete Sätze zu bannen und nicht der Auflösung aller Regeln anheimzufallen, das ist ein schwieriges Unterfangen, an dem auch schon andere gescheitert sind.

James Hamilton-Pasterson wehrt sich gegen dieses Scheitern. Lange wissen wir gar nicht, daß wir mit Prideaux unterwegs sind. Zuviele Nebenfiguren tauchen auf und verschwinden wieder hinter oder in Katastrophen und Anschlägen, in einem Horror, der als Hintergrund fungiert und eigenlich doch die Hauptrolle spielt. Doch die Zufälle häufen sich, Prideaux trifft immer wieder auf den Pfarrer und den Polizisten und besucht die Slumsiedlung am Rande eines Friedhofes, in dem die Toten in Palästen mit Wasserspülung wohnen, während die Lebenden durch den Schlamm waten. Die chinesische Mafia spielt eine Rolle, zwischen den Holzbuden werden prähistorische Funde ausgegraben, ein Senator will sich profilieren und plötzlich ist aus dem Wirrwarr ein Kriminalfall geworden, an dessen Rand auch noch der Clan des Diktators Marcos erscheint, samt Bausünden und Toten, die in den Fundamenten und Zementblöcken verarbeitet wurden. Daß in diesem Chaos ein simpler Kriminalfall möglich wird, entlockt dem Leser einen Seufzer der Erleichtung. Die Amokläufer können nun aus dem Blickwinkel eines Verbrechens wahrgenommen werden, und das ist beruhigend, braucht man doch nun nicht mehr die ganze Palette des Leidens und der Ungerechtigkeit wahrzunehmen: "Tagein, tagaus verschloß man vor so vielem die Augen, daß der ganze Kopf zu einem einzigen grauen Star wurde, der in allen Richtungen dieselbe milchige Undurchsichtigkeit zeigte."

Der Autor kennt, man merkt es, die sozialen, ökonomischen und ökologischen Probleme der Region, läßt Zeitungsspalten und Berichte lebendig werden, gruppiert sie gelegentlich zu Plakatwänden voller Leitartikel, die am Leser vorüberziehen. Dabei geht aber oft die Sprache mit dem Autor durch und die Vergleiche und Symbolismen jagen einander wie in einem Rauschzustand des postmodernen Menschen. Der Alt-68er Prideaux muß einsehen, daß er dem Phänomen Amok nicht auf die Spur kommt und reist ab. Kein Showdown. Kein Jüngstes Gericht. Aber ein Bekenntnis zu einer "kollektiven Liebe, die einst funkelte und leuchtete und sich niemals richtig bündelte".

Die Geister von Manila Roman von James Hamilton-Paterson, Insel Verlag, Frankfurt/M. 1998, 431 Seiten, geb., öS 321,

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