Martin und das rote Auto

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In Wien arbeiten seit 22 Jahren Psychagogen, Lehrer mit besonderer Ausbildung für Kinder mit besonderen Bedürfnissen.

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In Wien arbeiten seit 22 Jahren Psychagogen, Lehrer mit besonderer Ausbildung für Kinder mit besonderen Bedürfnissen.

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Es kommt bei uns sehr selten vor, daß wir Blumen bekommen - so wie die Lehrer. Wir begleiten sogenannte verhaltensauffällige Kinder, das heißt wir gleichen von unten her an das Normale an. Wenn das erreicht ist, vergißt man meist, was vorher war. So wie man einen Aufenthalt in einem Rehabilitationszentrum gerne vergißt." Die Psychagogin Eva Posch-Bleyer spricht diese Worte ohne Verbitterung aus: sie und ihre Kollegen sind mit so viel Idealismus bei der Arbeit, daß auch der eine oder andere Wermutstropfen ihr Engagement nicht dämpft.

Phantasie, Einfühlungsvermögen und Kreativität gehören - neben einer fundierten psychologischen Ausbildung - zum wichtigsten Handwerkszeug dieser Berufsgruppe. Entscheidend für den Erfolg einer Begleitung ist es, ob es dem Psychagogen gelingt, die Signale des Kindes richtig zu deuten und sich darauf einzustellen. "Wir sind im Grunde genommen Brückenbauer und Übersetzer", erklärt Eva Posch-Bleyer, wobei diese Übersetzertätigkeit in einem etwas weiteren Sinn zu verstehen ist.

Deutlich wird das an der Geschichte des kleinen Martin. Er hat irgendwann einmal aufgehört, zu sprechen - weder in der Schule noch zu Hause war ihm ein Wort zu entlocken. Als klar wurde, daß es sich dabei nicht um eine vorübergehende Laune handelt, sondern um eine tiefergehende Störung, wurde die Psychagogin Annelotte Barta eingeschaltet. "Wir hatten am Anfang mehrere Sitzungen pro Woche", erklärt sie, "Martin hat jede auf die gleiche Weise verbracht: er hat die Spielzeugautos in meinem Zimmer genommen und sie - ohne ein Wort zu sagen - in einer Reihe aufgestellt. Am Schluß der Sitzung hat er sie wieder weggeräumt. Mir hat er dabei den Rücken zugekehrt, er hat mich also nicht mitmachen lassen. Das ganze war ein sehr monotones und stereotypes Spiel."

Das Schweigen endlich gebrochen Dieses Spiel war aber offenbar die einzige Sprache, in der Martin sich mitteilen konnte. Barta stellte sich darauf ein, und brachte von zu Hause einen zweiten Satz Spielzeugautos mit. In der Folge ahmte sie sein Verhalten nach, nahm die Autos aus dem Korb und stellte sie in einer Reihe auf. Im Unterschied zu ihrem kleinen Klienten sprach Barta allerdings dabei, in ruhigem und freundlichem Ton: "Ich nehme jetzt das gelbe Auto und stelle es neben den grünen Traktor." Schließlich wagte die Psychagogin eine Kontaktaufnahme: sie fuhr mit einem Feuerwehrauto in Richtung Martin und sagte: "Ich würde ja die anderen Autos gerne besuchen, aber nur, wenn ich eingeladen werden." Martin war zwar irritiert über diesen Vorstoß, entschloß sich schließlich aber doch, seinerseits ebenfalls ein rotes Auto zu nehmen und gemeinsam mit dem Feuerwehrwagen eine Spazierfahrt im Zimmer zu machen.

Dieser Schritt brachte eine entscheidende Wende in der Beziehung zwischen den beiden. Inzwischen hat Martin sein Schweigen gebrochen, er spricht wieder mit seiner Mutter und beteiligt sich am Unterricht.

Dem Zuhörer drängt sich bei solchen Geschichten natürlich die Frage auf: Was war die Ursache, die ein derartiges Verhalten bewirkt? Annelotte Barta gibt darauf keine direkte Antwort: "In der Arbeit mit dem Kind ist es nicht das primäre Ziel, die Ursachen aufzudecken", sagt sie, "das Ziel ist vielmehr, in einem kreativen Prozeß neue, positive Verhaltensmöglichkeiten zu finden." Im Fall von Martin würde das bedeuten, daß er gelernt hat, sich auf ein Gegenüber einzulassen.

Natürlich stelle sich im Prozeß der Begleitung oft eine Ursache für die Verhaltensauffälligkeit heraus, berichten erfahrene Psychagogen, aber diese Ursachen seien komplex. Erklärungen wie die Scheidung der Eltern oder die Eifersucht auf ein neugeborenes Geschwisterchen greifen meist zu kurz.

Gertraud Schimak, Leiterin des Psychagogenteams macht das an einem Beispiel deutlich: Ein Kind, das im Alter von wenigen Monaten Asthma bekommen hat, wird in der Folge hin- und hergerissen zwischen Spital und Elternhaus. Die Anfälle und damit die Krankenhausaufenthalte sind so häufig, daß das Kind zu Hause keine richtigen Wurzeln schlagen kann. Der Vater hält die nächtlichen Störungen durch das kranke Kind nicht aus, er wird gewalttätig. Schließlich läßt die Mutter sich scheiden, die Situation beruhigt sich. Als das Kind jedoch in die Schule kommt, reagiert es verstört. Es wirft sich auf den Boden und spielt "tot".

"Vordergründig betrachtet könnte man sagen: gescheiterte Ehe, alleinerziehende Mutter, unerträglich schlimmes Kind", sagt Schimak, "in Wirklichkeit hängt dieses Verhalten aber eher damit zusammen, daß das Kind die Trennung von der Mutter nicht aushält - eben aufgrund seiner Geschichte mit den vielen Krankenhausaufenthalten."

Lehrer sind, besonders wenn sie eine Klasse neu übernehmen, oft damit überfordert, auf auffälliges Verhalten ihrer Schützlinge einzugehen und diese dann wieder auszugleichen. Dazu, so die Psychagogen, seien Lehrer in erster Linie ja auch gar nicht da. In so einem Fall sei es angebracht, einen Psychagogen zu Rate zu ziehen, der intensiv, wenn nötig mehrmals pro Woche, mit dem Kind in einem geschützten Rahmen arbeitet.

Auch Lehrer und Eltern werden betreut Die Arten der Verhaltensauffälligkeit sind natürlich sehr verschieden (positiv formuliert: Kinder sind kreativ, wenn es darum geht, ihre inneren Spannungen zum Ausdruck bringen). Im allgemeinen stellen sie sich jedoch in Form von Nicht-Anteilnahme, Leistungsverweigerung oder Aggression dar (letzteres sei oft ein Zeichen, daß sich ein Kind bedroht fühlt, so Barta).

Psychagogen sind aber auch dann zuständig, wenn das Problem in der Beziehung zwischen einem Lehrer beziehungsweise Familienmitglied und einem Schüler liegt. Tatsächlich sieht es so aus, daß immer mehr Lehrer und Eltern, die Probleme haben, psychagogisch betreut werden.

Die Schulsituation ist eine Art Dreiecksverhältnis zwischen Eltern, Lehrern und Schülern. Und - auch wenn es der Einfachheit halber gern so gedeutet wird - es sind längst nicht immer die Schüler, mit denen im Konfliktfall gearbeitet werden muß. "Zu unserer Aufgabe gehört es auch herauszufinden, wer braucht welche Unterstützung," erklärt Schimak.

Daß die rund 50 Psychagogen an den Wiener Volks-, Haupt- und Sonderschulen (andernorts ist dieses Modell noch nicht eingeführt) gute Arbeit leisten, zeigt die Statistik: Schulen, an denen Psychagogen tätig sind, haben weniger Betragensnoten und suspendierte Schüler aufzuweisen. Das Klima in diesen Schulen wird von allen Beteiligten ("von den Eltern bis hin zum Schulwart", wie es eine Direktorin formuliert) als überdurchschnittlich gut eingeschätzt.

Die Autorin ist Journalistin in Wien.

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