Massiv inszenierte Wirklichkeit

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Mit der Ausstellung "Der chirurgische Blick. Inszenierte Fotografie - Wiener Aktionismus - Sammlung Konzett" präsentiert "Westlicht" über 100 Fotografien von Aktionen von Hermann Nitsch, Rudolf Schwarzkogler, Otto Muehl und Günter Brus.

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Mit der Ausstellung "Der chirurgische Blick. Inszenierte Fotografie - Wiener Aktionismus - Sammlung Konzett" präsentiert "Westlicht" über 100 Fotografien von Aktionen von Hermann Nitsch, Rudolf Schwarzkogler, Otto Muehl und Günter Brus.

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Mit der Erfindung der Fotografie in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts brach eine euphorische Erwartungshaltung aus, die suggerierte, man sei nun endlich in der Lage, die Wirklichkeit genau so abzubilden, wie sie tatsächlich ist. Die Zeit einer verschobenen Realität, wie sie Malerei oder Grafik über Jahrtausende hinweg den Menschen mangels besserer Möglichkeiten vorsetzten, schien vorbei, all diese manipulativen Künste wurden nunmehr vom unüberbietbaren wirklichkeitstauglichen Übertragungsmedium Fotografie abgelöst. Wurden erstere dadurch in eine defensive Stellung gedrängt, galt es für zweitere, die technische Entwicklung auf die Spitze zu treiben, damit die Welt da draußen und deren Bannung auf ein Stück Fotopapier möglichst deckungsgleich sei.

Unverfälschte Erfahrung der Wirklichkeit

Die aktuelle Schau im Westlicht versammelt eine ganz spezielle Form von Fotografien, beziehen sie sich doch nicht auf eine vorgegebene, sondern auf eine bereits massiv inszenierte Wirklichkeit. Jene Gegebenheiten nämlich, die Günter Brus, Otto Muehl, Hermann Nitsch und Rudolf Schwarzkogler in ihren Aktionen nach sorgfältiger Planung in die Welt gesetzt haben. Innerhalb des Kunstbetriebes der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts, in denen die frühen Aktionen stattfanden, galt es, die vorherrschende abstrakte Malerei und das Informel aus deren Elfenbeinturm zu holen und - damit verbunden - auf gesellschaftlicher Ebene endlich die landläufigen Wertvorstellungen, die zwar die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs hervorgebracht hatten, aber dennoch weiterhin tonangebend waren, zu korrigieren. In ihrer großen Skepsis gegenüber der Übertragung der mehr oder minder heilen Wirklichkeit auf ein Stück Papier oder eine Leinwand - was letztlich immer in einem illusionistischen Charakter hängen bleiben musste - ersetzten sie Pinsel und Pigmente durch reale Körper, Gegenstände und Substanzen, und erzeugten damit Unmittelbarkeit.

Die vier Künstler, die nun unter der brand mark Wiener Aktionisten weltweiten Ruhm genießen, bemühten sich vor dem Hintergrund wertkonservativ-autoritärer Strukturen um eine unverfälschtere Erfahrung der Wirklichkeit, die sie durch die Inszenierung von intensiviertem sinnlichen wie psychischen Erleben zu erreichen suchten. Indem sie unmittelbar den Körper zum künstlerischen Mittel machten, überboten sie in gewisser Weise sogar noch die euphorischen Beschreibungen der Möglichkeiten der Fotografie. Denn presste diese noch immer dreidimensionale Erscheinungen in die prekäre Dünne eines Fotopapiers, war es den Aktionisten nicht nur möglich in der Räumlichkeit zu bleiben, wie dies auch die Bildhauerei schafft, sie konnten darüber hinaus noch mit Bewegung und Lebendigkeit punkten. Mit einem gravierenden Nachteil freilich - wenn es um die Haltbarkeit ihrer Kunst ging, waren sie einer beängstigenden Kurzlebigkeit ausgesetzt. War eine Aktion beendet, strömten die Besucher wieder auseinander, es blieben ein paar Relikte übrig und die Erinnerungen der Teilnehmer.

Was war naheliegender, als jene beiden künstlerischen Mittel, die im Vergleich am meisten Realitätsgehalt und Unmittelbarkeit für sich beanspruchen können, den Aktionismus und die Fotografie, zusammenzuspannen. Der Titel der Ausstellung, "Der chirurgische Blick" stammt aus den Überlegungen, die Walter Benjamin in den 30er Jahren über "das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit" angestellt hat. Auch Benjamin sah die Arbeit eines Malers fix gebunden an einen unumgänglichen Abstand zur vorgefundenen Welt, wogegen der "Kameramann tief ins Gewebe der Gegebenheit" eindringen kann. Und Benjamin verband diese spezifische Möglichkeit der Fotografie mit der Hoffnung, dass die Kunst damit auch politische Wirkmächtigkeit erlangen könnte, vor allem im Kampf gegen Faschismus und Nationalsozialismus, deren Opfer er selbst auch geworden war.

So unterschiedlich die Konzepte der Aktionisten auch sind - Kurator Hubert Klocker spricht vom analytisch-schamanistischen Selbstergründungsritual bei Brus, von der energetisch-gruppenanalytischen Befreiungsübung bei Muehl, dem wuchernd-strukturanalytischen Mysterienspiel bei Nitsch und dem reduzierten alchemistischen Labor bei Schwarzkogler - sie stimmen in Benjamins Forderung nach Repolitisierung ein, was sie nicht zuletzt durch ihre "direkte Kunst" erreichen wollen. So groß die Sprengkraft der Aktionen mit ihren Überschreitungen der nicht nur damals gängigen Vorstellungsmuster auch war, für den politischen Aspekt war eine größere Verbreitung mit Hilfe der Fotografie die ideale Ergänzung. Freilich hätte diese Kombination nicht jene symbiotische Harmonie zwischen zwei eigenständigen Kunstmitteln mit je eigenen Gesetzmäßigkeiten erreichen können, wenn nicht die Aktionisten selbst ihre Inszenierungen auf den Fotografien fortgesetzt hätten. Die Kongenialität einiger ihrer Fotografen erleichterte dieses gelungene Zusammenspiel zusätzlich.

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