Mehr als ein Weg: Islamisches Recht

Werbung
Werbung
Werbung

Auch wenn Fundamentalisten behaupten, es sei unwandelbar: Das islamische Recht ist keine starre Gesetzessammlung, sondern steht im Kontext einer konkreten Zeit und Gesellschaft.

Teile des islamischen Rechts seien mit den Grundwerten der deutschen Verfassung nicht vereinbar. Dies erklärte Michael Bertrams, Präsident des Verfassungsgerichtshofes und des Oberverwaltungsgerichtshofes von Nordrhein-Westfalen bei einem Vortrag Anfang September. Gleiches behaupten jedoch auch muslimische Fundamentalisten, weshalb sie die Einführung der Scharia in Europa einfordern.

Der Begriff „Islamisches Recht“ darf nur mit Vorbehalt verwendet werden, denn er suggeriert, dass im Islam ein abgeschlossenes juristisches Schema besteht, das alle Lebensbereiche erfasst. Betrachtet man den Koran, dann sind unter den 6236 Versen nur vereinzelte zu finden, die juristische Aspekte ansprechen. Die Hauptbotschaft des Koran ist die Erziehung des Inneren des Menschen; Prophet Mohammed drückte dies so aus: „Ich wurde entsandt, um die Charaktereigenschaften der Menschen zu vervollkommnen.“ Mohammed sah seine Botschaft also als eine spirituelle und ethische, nicht als eine juristische.

Prophet versus Staatsoberhaupt

Entscheidend für das Verständnis des Islam als spirituelle und ethische Botschaft anstelle einer juristischen ist die Unterscheidung der Rolle Mohammeds als Prophet, der eine göttliche Botschaft zu verkünden hatte, von seiner Rolle als Staatsoberhaupt (vor allem in Medina), in der er bemüht war, den Grundstein zur Errichtung eines Rechtsstaates zu legen. Als Prophet verkündete er neben dem Monotheismus und den gottesdienstlichen Praktiken allgemeine Prinzipien, die für jede Gesellschaft gelten sollten. Diese sind Gerechtigkeit, Unantastbarkeit der menschlichen Würde, Gleichheit aller Menschen, Freiheit aller Menschen und die soziale sowie ethische Verantwortung des Menschen. Später als Staatsoberhaupt war er bemüht, diese Prinzipien mit den ihm im 7. Jahrhundert auf der arabischen Halbinsel zur Verfügung stehenden Ressourcen und Kenntnissen in die Praxis umzusetzen. Islamische Gelehrte, die diese Bemühungen Mohammeds jedoch als Teil seiner göttlichen Verkündung sehen, betrachten alle juristischen Regelungen und die gesamte Gesellschaftsordnung in Medina – dazu gehören auch die Geschlechterrollen – als kontextunabhängige verbindliche göttliche Gesetzgebung, die alle Muslime, auch die heutigen in Europa, anstreben müssen. Dieses Verständnis blockiert jedoch jede Möglichkeit der Weiterentwicklung der in Medina geherrscht habenden juristischen Ordnung und zwingt jeden Muslim, rückwärtsorientiert zu denken.

Kurz nach dem Ableben des Propheten Mohammed breitete sich der islamische Staat schnell aus. Durch den Kontakt mit anderen Kulturen ergaben sich neue Fragestellungen, auf die man im Koran und in der Sunna (die prophetische Tradition) keine direkten Antworten fand. So waren die muslimischen Gelehrten schon kurz nach Mohammeds Tod bemüht, Methoden zu entwickeln, mit denen sie Antworten und Normen aus dem Koran und der Sunna ableiten konnten. Aschafii (geb. 767), nach dem eine der vier Rechtsschulen benannt wurde, legte in seinem Buch „Arrisala“ den Grundstein für die Gründung einer neuen Disziplin, die „Methodologie der islamischen Jurisprudenz“. Ihm ging es um die Institutionalisierung der Ableitung von Normen aus dem Koran und der Sunna, also um eine relativ abstrakte Systematik, ein kohärentes System des Umgangs mit den Quellen. Neben der direkten Ableitung von Normen aus dem Koran und der Sunna beschrieb Aschafii u. a. die Möglichkeit des Analogieschlusses.

Gelehrte der Methodologie der islamischen Jurisprudenz teilten die islamischen Normen in Kategorien ein: Pflicht, Empfohlenes, Verbotenes, Verpöntes und Erlaubtes. Diese Einteilung wurde entlang der sprachlichen Form der im Text (Koran und Sunna) vorkommenden Gebote und Verbote, sowie entlang der beschriebenen rechtlichen oder jenseitsbezogenen Konsequenzen (Tadel, Lohn) bei deren Einhaltung vorgenommen. Vieles von dem, was wir heute als „Islamisches Recht“ bzw. „Scharia“ bezeichnen, ist nichts anderes als das Ergebnis persönlicher Bemühungen vieler Gelehrter, aus dem Koran und der Sunna Normen abzuleiten.

Auf den Wortlaut pochen – oder nicht

Aschatibi (gest. 1388) kritisierte die Vorgangsweise der Gelehrten, da sie sich hauptsächlich auf den Wortlaut des Textes konzentrierten. Ihn hingegen beschäftigte die Frage nach den sozialen und lebensnahen Umständen menschlichen Handelns. In seiner Konzeption der Methodologie der islamischen Jurisprudenz erhob er die Erfüllung menschlicher Interessen zur höchsten Instanz religiöser Normen: „Religiöse Lehren dienen der Erfüllung der Interessen der Menschen im Dies- und im Jenseits.“ Demnach sind Handlungen geboten, wenn sie zur Erfüllung dieser Interessen einen Beitrag leisten, und verboten, wenn sie deren Erfüllung verhindern bzw. Schaden verursachen. Diese Gedanken Aschatibis öffnen eine wichtige Tür für die Weiterentwicklung des islamischen Rechts. Die Interessen der Menschen sind kontextabhängig und daher wandelbar, die islamische Jurisprudenz muss diesen Wandel begleiten können, ihre Bindung an die Erfüllung menschlicher Interessen wäre ein Garant dafür. Beliebigkeit und völliger Relativismus können durch die oben genannten fünf koranischen Prinzipien, welche neben den gottesdienstlichen Praktiken (Gebet, Fasten usw.) und dem Grundsatz des Monotheismus als fixer Rahmen dienen, verhindert werden.

Wer bestimmt die menschlichen Interessen?

Traditionelle islamische Gelehrte orientierten sich primär am Wortlaut des koranischen bzw. prophetischen Textes und suchten darin nach klar definierten, allgemeingültigen Kriterien für die Normfindung, der soziale Kontext spielte dabei keine Rolle. So definierten sie z. B. das Erlangen der Geschlechtsreife als Kriterium für den Beginn des heiratsfähigen Alters, oder eine Reise über 80 km als Kriterium, dass das Fasten im Ramadan abgebrochen wird. Beachtet man allerdings die menschlichen Interessen, dann wird man feststellen, dass weder ein Bub noch ein Mädchen mit 13 Jahren in der Lage ist, eine Ehe zu führen. Auch stellt eine 80 km lange Reise mit dem Auto keine vergleichbare Belastung für den Körper dar, als wenn sie in der arabischen Wüste mit dem Kamel unternommenen wird.

Islamische Gelehrte können nicht juristische, politische, wirtschaftliche, medizinische und naturwissenschaftliche Aufgaben lösen, sie sollten aber an die zuständigen Experten appellieren, mit bestem Wissen und Gewissen vorzugehen, sodass menschliche Interessen gewahrt und verwirklicht werden können. Interdisziplinäre Zusammenarbeit ist hierfür nötig.

Worüber sich Juristen in einem Rechtsstaat einigen, kann – unabhängig davon, ob dieser Staat ein islamischer ist oder nicht – als „islamisch“ bezeichnet werden, wenn die Interessen der Allgemeinheit gewahrt werden und nicht gegen die oben genannten fünf Prinzipien verstoßen wird, da eben die Wahrung menschlicher Interessen das Ziel islamischer Jurisprudenz ist. Dieser Gedankengang ist gerade für Muslime in Europa sehr wichtig, damit sich die von manchen Fundamentalisten konstruierte Diskrepanz zwischen „islamischen“ und „europäischen“ Gesetzen auflöst.

Um diese Konzepte auch hier in Österreich seriös weiterentwickeln und in die Praxis umsetzen zu können, sollten Arbeitsgruppen von islamischen Theologen, Islamwissenschaftlern, Religionsrechtlern und Imamen gebildet werden. Imamekonferenzen, deren Abschlusserklärungen nur auf dem Papier enden, reichen bei Weitem nicht aus.

* Der Autor ist Islamwissenschafter in Wien

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung