Mehr als nur Charisma

Werbung
Werbung
Werbung

Bei Gedenktagen haben auch Publikationen Hochsaison. Leonard Bernsteins 100. Geburtstag bildet keine Ausnahme. Auch was das Bestreben anlangt, auf eine andere, bisher scheinbar unbekannte Seite einer Person hinzuweisen, wie Sven Oliver Müller in seinem Bernstein-Buch "Der Charismatiker" (Reclam). Sollte nur Bernsteins zugegeben schillerndes Privatleben interessieren? Warum setzt sich der Autor nicht ebenso detailverliebt, vor allem kenntnisreich mit dem Musiker Bernstein auseinander? Peter Gradenwitz' noch zu Lebzeiten dieses universellen Musikers publizierte Bernstein-Biographie (Atlantis 1985) bietet ungleich mehr Information. Nicht minder die Auseinandersetzung mit Bernsteins Musiktheater von Andreas Jaensch (Bärenreiter 2003). Beiden Autoren geht es nicht um Geschichten, sondern um souverän ausgebreitete Musik-und Kulturgeschichte.

Ebenso aufschlussreich ist es, sich unmittelbar mit dem Komponisten und Interpreten Bernstein zu beschäftigen. Mehrere zu seinem Geburtstag erschienene Kassetten laden dazu ein. 121 CDs und 36 DVDs umfasst die von Deutscher Grammophon und Decca edierte Box "Leonard Bernstein. Complete Recordings". Darin präsentiert er sich hauptsächlich am Pult der Wiener Philharmoniker bei mehreren Gesamtaufnahmen. Mit anderen Orchestern auch mit Mahler, den man mittlerweile nüchterner, emotional distanzierter deutet, wie es "Lennie" zeitlebens vorzeigte. Aus heutiger Sicht wirken seine Beethoven-und Brahms-Deutungen, seine Auseinandersetzungen mit Sibelius und Schostakowitsch quasi "moderner", weil jedes übertriebenen Sentiments entkleidet, so mitreißend man Bernsteins Live-Auftritte mit seinem Leibkomponisten Mahler in Erinnerung hat.

Vorzüglicher Solist

Im Übrigen -das demonstriert die aus 26 CDs und 3 DVDs bestehende Kompilation "Bernstein Complete Works", worin er unter anderem als Dirigent seiner drei Symphonien, seiner Dybbuk-Ballettmusik, seiner komischen Operette "Candide", seinem Welterfolg "West Side Story" oder einem Mitschnitt seiner Oper "A Quiet Place" aus der Wiener Staatsoper mit dem ORF-Symphonieorchester vertreten ist -näherte er sich seinem eigenem Schaffen stets mit etwas Distanz, ließ er seine Leidenschaft hier "kontrollierter lodern". Was für ein vorzüglicher Solist, Kammermusiker, auch Liedbegleiter (Mahler mit Fischer-Dieskau, Brahms mit der Ludwig) er war, ruft die CD-Box "Leonard Bernstein. The Pianist"(Sony, 11 CD) in lebhafte Erinnerung.

Nicht alle diese Tondokumente geben die Unmittelbarkeit von Bernsteins begeisternden Live-Auftritten wider. Aber nach wie vor besticht die profunde Analytik seiner Interpretationen. Das und sein Charisma machen die besondere Faszination dieser Ausnahmepersönlichkeit aus.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung