Mehr als zwölf Töne

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Das sechste Festival "Klangspuren" im Tiroler Schwaz taucht "zwischen den Zeiten".

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Das sechste Festival "Klangspuren" im Tiroler Schwaz taucht "zwischen den Zeiten".

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Ein Basketballkorb hängt an der Decke, Sprossenwände flankieren die Wand, ein Spielstand, H gegen G, steckt auf 0:0. Die Bergstadt Schwaz hat keinen Konzertsaal, so muß der Turnsaal der Hauptschule als Aufführungsort des Eröffnungskonzertes der heurigen "Klangspuren Schwaz" herhalten. Das macht aber nichts.

Ein kulturbegeistertes Publikum pilgert zu den diversen Spielstätten, Konzentration und Freude der Zuhörerschaft adeln den Saal. Zehn Minuten länger als geplant wird die Uraufführung von Kurt Estermanns erster Symphonie dauern, das Tiroler Symphonieorchester hat Überstunden gemacht, um das moderne Werk in den Griff zu kriegen. Eine wiegende Harfe dominiert den Beginn, ein bißchen klingt's nach Filmmusik, Bächlein rauschen, Feen hüpfen durch den Märchenwald, zeitweise schrauben sich die Streicher durch mehr Tempo zu ein bißchen Dramatik hoch.

Vierzig Minuten dauert es, etwas lang und trotzdem schmerzlos. Neue Musik muß nicht wehtun, diese zerreißt das Trommelfell auf keinen Fall. Dirigent Georg Schmöhe macht melodisches Dahinplätschern mit vehementen, expressiven Gesten wett. Wohlwollend versunken lauscht ein Gutteil der Zuhörer geschlossenen Auges. Keiner klatscht zum falschen Zeitpunkt. Kurt Estermann, der junge, blaße Komponist, erntet "Bravo"- Rufe.

Beschwingte Laune bei Prosecco und Brezeln in der Pause, die zweite Uraufführung, ein Auftragswerk der Stadt zur heurigen Hundertjahrfeier reißt vom Sessel. Humorvoll und witzig malträtiert Tonschöpfer Dave Tylor seine Trompete, allerlei Behelfe, halbrund, aus Plastik oder zylinderförmig metallern, stehen auf einem Tisch, der Magier variiert sein Instrument, assistiert von Franz Hackl, dem langhaarigen Engel mit der Posaune. Er ist auch Komponist des witzig skurrilen Klanguniversums. Gurgelnde, tanzende, quietschende Töne produziert das Duo, raffiniert verstärkt vom Orchester. Wieder "Bravo"-Rufe, tosender Applaus und viel Lachen in den Gesichtern. Der Engel versteht den Umgang mit Musik.

Arnold Schönbergs "Ein Überlebender aus Warschau" bildet den Ausklang. Nicht zufällig. "Es war mein erster Wunsch zur Stadtfeier, daß dieses Stück aufgeführt wird", erklärt der Pianist und künstlerische Leiter Thomas Larcher. Zwangsarbeiter aus Polen und Rußland hatten während des Krieges in den Henckel Messerschmidt Werken gearbeitet.

Im Jahr 1995 riefen die "Klangspuren" erstmals dieses Stück Geschichte in das öffentliche Bewußtsein, und erwirkten einen Eingang der Ereignisse ins Stadtbuch. Damit dieses Stück Vergangenheit in der Jubiläumsfreude nicht ganz untergeht, setzte Larcher den Schönberg ins Eröffnungskonzert. "Wir sind nicht nur eine Konzertreihe, wir sind auch ein gesellschaftspolitisches Projekt", erklärt er. "Wir wollen viele Leute erreichen, die mit Neuer Musik eigentlich nichts zu tun haben. Deswegen gehen wir auch in Fabriken und Schulen, und veranstalten an verschiedenen Orten." Daß auch junge Tiroler Komponisten zur Uraufführung gelangen, versteht sich von selbst. "Wir wollen den Musikern eine Plattform bieten", fördert Larcher die Neue Musik vor allem dort, wo sie noch nicht arriviert ist. "Wir sind kein elitärer Zirkus."

Es stöhnt, hallt, zirpt Die Kirche St. Martin ist heuer eine wichtige Spielstätte. Rokoko trifft auf Herbert Grassl: vom Band kommen vielfach Echos auf das Spiel des Südtiroler Klarinettisten Reinhold Brunner. Die darauf folgende Vierkanalbeschallung fürs Klavier eröffnet ein eigenes Klanguniversum: Es zerrt, haucht, stöhnt, hallt, zirpt und vibriert, während Pianist Kainrath sein Bestes gibt, gegen die Geräuschvielfalt aus dem Off anzuspielen. Das Publikum klatscht für Südtirols Interpreten.

Auch der ortsbekannte Eremit, der jedes Jahr begeistert sein isoliertes Domizil verläßt, um rauschebärtig in die Moderne zu lauschen, ist darunter. Frenetisch wird der Applaus bei Gyögy Ligeti. Patrick Demenga interpretiert mit eindrucksvoller Mimik, streichelt und umschmeichelt sein Instrument und reißt damit alle mit. Das Tiroler Publikum ist begeisterungsfähig, die Atmosphäre in Schwaz dicht und aufmerksam. Thomas Larchers Konzept kommt an: Hier wird mit Lust gelauscht, und mit Lust gespielt. Larcher glänzt in der Konterprogrammierung von Mozart, Holliger und Huber. Selbst das berühmte Hilliard Ensemble kommt und spielt in den Kristallwelten Wattens. Bis zum 24. September dauert's noch, zwei Highlights könnte man noch lauschen: Ernst Holleger, Eduard Demetz und John Adams sind am Donnerstag in der Kirche St. Martin zu hören.

Die Schlußaufführung bildet einen krönenden Abschluß: Das Ensemble Modern Frankfurt spielt Wolfgang Mitterers "KA und der Pavian." "Das wird sicher einer der Höhepunkte", freut sich Thomas Larcher auf diesen Abend in den Jenbacher Werken nicht nur, weil er der letzte ist. Die Uraufführung eines Tiroler Komponisten, interpretiert von einem erstklassigen Orchester, aufgeführt in einer Fabrik - besser kann sich Larchers Konzept kaum in einem einzigen Konzert wiederfinden.

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