Mehr Euphorie für den Osten!

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Anmerkungen zu den Werken Karl Schlögels, nein, nicht des österreichischen Innenministers, sondern des deutschen Historikers und Essayisten.

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Anmerkungen zu den Werken Karl Schlögels, nein, nicht des österreichischen Innenministers, sondern des deutschen Historikers und Essayisten.

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Still, viel zu still ist es bei uns in Österreich. Die politischen und ministeriellen Gespräche um die Osterweiterung der Europäischen Union schreiten zügig voran. Aber jenseits der Konferenzräume? Der Verhandlungstische? Der Akten, Projektanträge und Notizen? Schweigen ersetzt hier vielerorts die Verständigung darüber, was eigentlich längst schon im Gange ist. Mit unseren osteuropäischen Nachbarn, wie auch mit uns, die wir oft nur einige wenige Kilometer von der EU-Außengrenze leben. Ja, was dürfen wir uns erwarten von diesem, unserem Osten? Lassen wir den Zahnarzt- und Friseurtermin, den Tankstellen- und Wirtshausbesuch jenseits der Grenze beiseite: Was bleibt dann viel übrig?

Machen wir uns nichts vor: Unsere östlichen Nachbarn besitzen bei uns einen schlechten Leumund. Leider. In den Wirtschaftsmeldungen wird mehr von Korruption denn von Marktwirtschaft, im Politischen von Nationalismus und Fremdenhatz denn von Parlamentarismus und offener Gesellschaft berichtet, auch auf den Kulturseiten macht sich das östliche Europa rar. Den engagiert gemachten Literaturbeilagen zum Schwerpunkt "Ungarn" anläßlich der diesjährigen Frankfurter Buchmesse zum Trotz: Aus dem Osten Europas wird heute, 1999, wenig bis gar nichts mehr erwartet. Wir haben ihn in unsere gleichgültige Normalität überführt.

Gegenwärtig blicken wir eher nach Großbritannien, nach Frankreich und Deutschland. Ob das politische Vokabel vom "Dritten Weg" oder jenes schöne Wort von der "Zivilgesellschaft": Beide Begriffe, ursprünglich "made in eastern europe", sind in den vergangenen zehn Jahren nach Westen hin abgewandert.

Auf ihrem Weg dorthin haben sie, von uns unbemerkt, die Schengengrenze durchschritten, haben sich von Symposium zu Symposium Richtung Westen weitergehantelt, wo sie seit einiger Zeit angekommen sind. Während wir Tony Blair oder Lionel Jospin mit Interesse zuhören, drehen wir dem Osten derweil den Rücken zu.

Zehn Jahre zuvor, als das kommunistische System vollends zusammenbrach, war die Situation noch eine andere. Gerade auch bei uns. Neugierde und beflügeltes, ja geradezu euphorisches Denken, nicht zuletzt aufgrund der politischen Karriere von Schriftstellern und ehemals verfemten Intellektuellen, war allerorten für unseren nahen Osten zu registrieren. Die Aufgabe, die sich uns stellte, hieß: Europa neu zu denken. Was ist daraus geworden? Bei uns?

Nicht viel. Die Mühen der Ebene haben uns heute wieder eingeholt. Keine Euphorie, vielerorts nur noch mäßiges Interesse - dafür Institutsgründungen, Forschungsgelder, Symposien, Leitartikel am Wochenende und östliche Reportagen nächtens im Fernsehen. Europas Zusammenwachsen passiert weniger aus der Mitte heraus, als daß es akademisch und staatstragend von Montag bis Freitag konzipiert wird. Auch das ist notwendig, doch vom großen Ruck, der durch die Gesellschaft geht, ist nichts mehr zu verspüren. Eine vertane Möglichkeit?

Vieles ist wieder eingeschlafen in der Mitte unserer Gesellschaft. Obwohl gerade das Zusammenwachsen Europas einer liberalen Mitte bedarf, die bereit ist, ein, zwei Schritte jenseits des praktischen Hausverstands sich des gesamteuropäischen Projektes anzunehmen. Und damit auch des Ostens, dessen Stabilität erst durch eine entsprechende gesellschaftliche Mitte erreicht sein wird, auf der das Fundament des demokratischen Miteinanders fußt. Unser Blick orientiert sich heute an der Innenpolitik, in unserem Nachdenken kommt Westeuropa noch vor.

Vergessene Laboratorien Den Osten stellen wir uns zwischenzeitlich als schlecht ausgerüstete LKW-Kolonne vor, die unsere Straßen und Brücken belastet und verstopft. Wir haben ihn uns abnehmen lassen, den Osten, haben ihn delegiert: an Ministerien, PR-Agenturen, Redaktionen und EU-Programme. Zumindest hier in den etwas ruhigeren Bereichen unserer Gesellschaft hat der Osten sein finanzielles und intellektuelles Auskommen. Ob das für eine dauerhafte gemeinsame Zukunft reichen wird?

Die, die gegen diese "Verstaatlichung des Ostens" anschreiben, und das sogar noch euphorisch, sind bis heute rar. Der Essayist Karl Schlögel ist einer von ihnen. Und er ist einer der Beständigsten. Seit nunmehr gut zehn Jahren liefert er unverzagt nachlesbare Gelegenheiten, unseren östlichen Teil näher kennenzulernen. Der Osten, das meint für den 1948 im Allgäu Geborenen immer auch Rußland, meint die europäischen Verbindungen, die uns mit diesem fernen Land verbinden. Kein Wunder, dass mittels dieser Linien und Verschränkungen es vor allem die Städte sind, die Schlögel interessieren, für die er beim Leser ausdauernd um Aufmerksamkeit und Erinnerungsbereitschaft wirbt.

Und recht hat er! Ob Moskau oder St. Petersburg, für die Geschichte der westlichen Moderne waren diese Städte wichtige, heute leider nur allzu oft vergessene Laboratorien. Denn nicht nur bei uns in Wien oder in Paris oder Berlin hat die Moderne ihre Anfänge genommen, auch im europäischen St. Petersburg und nachmaligen Leningrad wurde unsere Moderne erdacht und erprobt.

Die Inhalte seiner Bücher, Aufsätze und Artikel variieren, das große Thema bleibt aber überall erkennbar: Es ist die unvermutete Nähe zu unseren östlichen Nachbarn. Da wird nicht deutschnational geraunt oder nostalgisch an das Große Experiment gedacht: Bei Schlögel steht die gegenwärtige Gesellschaft, vorwiegend die Stadtgesellschaft östlicher Provenienz auf dem Programm. Sie, die wiederkehrende Mitte aus Freiberuflern und Unternehmern, Technikern, Anwälten, Journalisten und EDV-Programmierern beobachtet und besucht er, über sie berichtet er aus immer neuen Perspektiven, aus immer neuen Orten. In Berlin entdeckt er nicht nur die Geschichte emigrierter Russen und Juden, in Moskau nicht nur die Spuren des europäischen Jugendstils, in Königsberg nicht nur preußische Relikte, in Warschau nicht nur das Ghetto - Sein Hauptaugenmerk richtet Schlögel jeweils auch auf die neuen Vertreter eines mittelständischen Bürgertums, das selbstbewußt nicht mehr auf den Westen wartet, sondern lieber mit ihm Geschäfte machen will beziehungsweise längst schon macht.

Betonung des Bürgers Die Verankerung im Historischen bleibt bei all seinen Streifzügen gewahrt. Damit verhilft Schlögel auch dem Langzeitgedächtnis dieses Kontinents wieder auf die Beine. Nicht nur reklamiert er damit längst abgeschriebene Landstriche wieder in unser politisch-geographisches Wissen hinein - wie fruchtbar diese Perspektive ist, hat kürzlich auch der Historiker Dan Diner mit seinem Buch "Das Jahrhundert verstehen" (1999) für Europa unter Beweis gestellt -, mit der Betonung des bürgerlichen Individuums führt Schlögel wieder eine Figur in die europäische Szene ein, auf die über Jahrzehnte hinweg von uns im Westen vergessen wurde. Der Rotarmist, der politische Funktionär, die Menschenschlange vor den Läden, die Bauern und natürlich die Stahl- und Grubenarbeiter: Im zugelassenen Personenensemble des Ancien regime war der bürgerliche Mensch und die damit verbundene Sphäre des Privaten nicht vorgesehen.

Und seien wir ehrlich: Gar sonderlich ist er uns in all den Jahren gar nicht abgegangen. Zu Recht erfolgt also die Schwerpunktsetzung auf diese so wichtige gesellschaftliche Figur, denn unsere liebgewordene Metapher des "Ostblocks" - mitsamt demRattenschwanz an graugefärbten Assoziationen -, von der zu sprechen heute als unschick und antiquiert gilt, wird noch immer ganz gerne als Orientierungshilfe, zugleich aber auch als abrufbares Furchtvokabel genutzt.

Apropos Furcht: Auch die vermeintlichen Realisten aus Wirtschaft und Politik haben uns die Euphorie für den Osten Europas in den letzten Jahren gründlich verdorben. Das Gespräch der Mitte ist längst durch das Zitieren aus irgendeiner Expertise ersetzt worden. Kaum noch hört oder liest man Zuversichtliches oder gar Positives aus unserem östlichen Europa; von wortreicher Skepsis, betroffener Zurückhaltung und sorgenvollen politischen Dementi dafür umso mehr.

Natürlich, die Fakten, auf die da regelmäßig verwiesen wird, sollen nicht in Abrede gestellt werden. Ob Bohunice oder bedrängte Minderheiten, Firmenabsiedelung oder Schwarzarbeit, Kriminalität, Mafia, Prostitution und Menschenschmuggel: Ein Gespräch über das östliche Europa würde ohne diese Tatsachen an Unglaubwürdigkeit leiden. Andererseits: Ein Gespräch nur entlang dieser Themen verfälscht die Gegenwart, den osteuropäischen Ist-Zustand genauso. Nur zur Erinnerung: Andere Realitäten Es gibt auch andere andere, weitere Realitäten, etwa die Wiederkehr der Stadtgesellschaft, die Wiedereinsetzung von gewählten Bürgermeistern, die vielen kleinen Veränderungen im Straßenbild. Folgt man Schlögel, dann sind es genau diese Veränderungen, die in ihrer Aussagekraft über den aktuellen Zustand des östlichen Europas weit beständiger Auskunft geben, als es irgendeine veröffentlichte Statistik kann, irgendein Bericht über eine aufgedeckte Menschenschmugglerei leistet.

Seismographisch registriert Schlögel all das, was uns längst zur Selbstverständlichkeit geraten ist, einige wenige Kilometer ostwärts aber noch keineswegs zum unkommentierten Alltag der Städte gehört. Straßenbeleuchtungen gehören dazu wie Kinos und Kaffeehäuser, Straßenschilder wie ausländische Zeitschriften, eingerüstete Häuser genauso wie Szenelokale und Kaufhäuser, Telefonzellen ebenso wie Kleidung und Automarken. Auf diesen scheinbar belanglosen Beobachtungen fußt denn auch seine Zuversicht, daß in den Städten des Ostens die verläßliche Verwandlung ins Zivile stattfindet.

Wollen wir seine Zuversicht überhaupt mit ihm teilen?

BUCHTIP Eine Auswahl von Karl Schlögels Werken: Jenseits des Großen Oktober. Das Laboratorium der Moderne. Petersburg 1909-1921. Berlin 1988.

Das Wunder von Nishnij oder die Rückkehr der Städte. Frankfurt am Main 1991.

Moskau, offene Stadt. Eine europäische Metropole. Hamburg 1992.

Go east oder Die zweite Entdeckung des Ostens. Berlin 1995.

Karawanserei Berlin. Russen und Deutsche in ihrem Jahrhundert. Berlin 1998

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