"Mehr Räume für Kinder, wo sie tun können, was sie wollen"

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Der Erziehungswissenschafter und Zukunftsforscher Reinhold Popp über das Lernen in Freizeit sowie Ferien, und warum die Schule mehr auf die Freizeit vorbereiten sollte.

* Das Gespräch führte Regine Bogensberger

"Zuerst die Arbeit, dann das Spiel". Dieser lästige Spruch - den viele zwar ungern hörten, aber trotzdem beherzigten - habe immer noch seine volle Gültigkeit, meint Reinhold Popp, Co-Autor des Buches "Pädagogik der Freizeit" (S. 24).

Die Furche: Professor Popp, vorweg, wie steht es eigentlich um die Pädagogik der Freizeit? Konnte sie sich innerhalb der Pädagogik etablieren?

Reinhold Popp: Nein, die Pädagogik der Freizeit wurde nie akzeptiert. Die Pädagogik ist eine außerordentlich lustfeindliche Angelegenheit, zumindest im deutschsprachigen Raum, und hat daher mit Begriffen wie Freizeit und Spiel besondere Schwierigkeiten. Die Pädagogik ist sehr Arbeitswelt-orientiert, da stört die Freizeit wieder. Die Freizeit als ernsthafte Frage der Pädagogik einzubringen, ist in Wahrheit nie gelungen.

Die Furche: Das verwundert, wo doch die Reform- und Freizeitpädagogik einige Schnittstellen haben: etwa das Plädoyer, die strikte Trennung zwischen Schule und Freizeit, zwischen formellem und informellem Lernen aufzulockern?

Popp: Trotz allem, was theoretisch diskutiert wird, versteht sich die Schule in der Praxis eben als berufsvorbereitende Instanz. Der Mensch verbringt aber bis zu 90 Prozent der Lebenszeit außerhalb des Berufs. Die Schule bereitet letztlich auf diese Bereiche nicht vor.

Die Furche: Würden Sie also sagen, dass der Spruch, der über Generationen gepredigt wurde, noch immer seine Gültigkeit hat? Zuerst die Arbeit, dann das Spiel.

Popp: Ja, ich würde sogar sagen, dass dieser Spruch nun verstärkt gilt, weil in Zeiten der sogenannten Wirtschaftskrise viele Menschen den Eindruck haben, sie müssten noch mehr Zeit in die Arbeit investieren.

Die Furche: Wie wäre Ihnen der Spruch lieber? Etwa: Arbeitet und spielt!

Popp: Ja, so wie es auch in reformpädagogischen und guten Konzepten für ganztägige Schulformen vorgesehen wäre, so könnte auch für das Leben überhaupt gelten: Schluss mit diesen abgegrenzten Blöcken, die nur aus Tradition entstanden sind. Wir haben mehr Freizeitanteile in der Jugend, extrem lange ab der Pensionierung - dazwischen ein Leben, das ganz stark von Arbeit geprägt ist. Der Sager "Arbeitet und spielt" hätte in einer erweiterten Form sogar recht, indem diese Abwechslung von Freizeit- und Arbeitsphasen im Sinne einer neuen Flexibilität die Zukunft sein wird.

Die Furche: Sie meinen arbeiten zu Hause, in der Blumenwiese mit dem Laptop, Auszeiten usw. Davon ist schon die Rede. Sehen Sie nun einen Trend in die Gegenrichtung?

Popp: Nicht unbedingt. Ich glaube schon, dass es eine stille Revolution auf diesem Sektor gegeben hat.

Die Furche: Aber offenbar noch nicht so sehr im Schulbereich. Wie pädagogisiert soll die Freizeit von Schülern und Schülerinnen eigentlich sein?

Popp: Ich bin kein Freund einer Pädagogisierung von allen Lebensbereichen. Der Begriff "Pädagogik" erzeugt auch manchmal falsche Bilder: etwa eines Oberlehrers, einer Oberlehrerin, der oder die sich überall einmischt, alles besser weiß, Ratschläge fürs Leben parat hat und nicht begreifen will, dass das wichtigste Lernen eigentlich ohne Lehrer stattfindet.

Die Furche: Dass also "Pädagogik" zu sehr mit der Schule in Verbindung gebracht wird.

Popp: Eben. Es müsste ein neues Verständnis des Pädagogen geben, nämlich im Sinne eines verständnisvollen Begleiters für bestimmte Phasen des Lebens.

Die Furche: Nach einem breiten Begriff von Lernen könnte man in Anlehnung an Paul Watzlawicks "Man kann nicht nicht kommunizieren" sagen: Man kann nicht nicht lernen.

Popp: Das stimmt. Wenn man den Lernbegriff so breit anlegt, muss man sagen: Wir lernen immer und wir lernen quantitativ betrachtet am wenigsten in der Schule. Der Begriff wird aber meist enger geführt: Wenn man sagt, ein Bereich wird pädagogisiert, dann meint man meistens, dass irgendwer ins Spiel kommt, der sagt, was man machen soll, was sinnvoll und gut ist. Eigentlich kommt wieder ein Lehrer ins Spiel …

Die Furche: … und eine Form der Formalisierung und Institutionalisierung. Was zum Thema Ferienlager führt. Da gibt es viele verschiedene - von Lern- und Nachhilfecamps bis Camps fürs Abenteuer.

Popp: Wir sind heute in einer Situation, wo für Kinder und Jugendliche sehr viel vorstrukturiert wird. Da wäre es möglicherweise eine wichtige Aufgabe von Pädagogen, da und dort ein Stück Entpädagogisierung zu betreiben: dass also Kinder und Jugendliche einen Raum gestalten oder verwalten können, in dem sie tun können, was sie wollen. Ein Jugendzentrum, das durchgestylt ist, wird von Jugendlichen nicht gerne besucht. Wenn ein Pädagoge die Rolle so versteht, dass er Begleiter für den Freiraum ist, dann hat er ein richtiges Verständnis. Er soll nicht ständig Programm bieten, pädagogisch Sinnvolles einfordern, sondern er kann ruhig auch sagen: O.K., ich schaue, dass die ärgsten Auswüchse ausbleiben, aber ihr könnt mit den Freunden machen, was ihr für richtig haltet.

Die Furche: Manche Eltern würden einwenden: Jetzt hat mein Kind schlechte Noten, sagen wir in Englisch, ich habe viel für das Sprachcamp bezahlt, also soll da auch ein Erfolg rausschauen.

Popp: Ich würde lieber bei den Wurzeln ansetzen. Mir wäre es lieber, wenn es einen besseren Englisch-Unterricht gäbe. Ich wäre dafür, dass gute ganztägige Schulformen angeboten werden, in denen die Schüler gut gefördert werden. Dann müssten Eltern keine Nachhilfestunden und teuren Feriencamps für Nachhilfe bezahlen.

Die Furche: Dann könnte man ungezwungener die Ferien angehen. Würden Sie überhaupt der provokanten These zustimmen, dass das freie Spiel in der Natur mit Freunden einem Ideal von Lernen näher kommt als das schulische Lernen?

Popp: Freizeit ist ein Bereich, in dem man viel lernen kann. Manches aber erfordert eine strukturierte Arbeitssituation, das muss man auch sagen. Physik zu begreifen, würde schon voraussetzen, dass man sich hinsetzt und im klassischen Sinne lernt. Es würde aber auch beinhalten, dass man einen Bach staut und sieht, wie Wasserkraft funktioniert, so wie das Kinder beim Spielen erleben. In dieser Mischung ist es gut. Nur Freizeit zu haben, ist auch nicht wünschenswert. Schule sollte auch die Aufgabe haben, auf Freizeit vorzubereiten. Sportunterricht etwa sollte so gestaltet werden, dass Kinder Bewegungskultur lernen, mit der sie dann ihr ganzes Leben lang Freude haben.

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