Fußgänger Urban - © Foto: Pixabay

Hass auf Minderheiten: Die Geschichte des Rassismus

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Minoritäten bereichern – aber sie haben es nicht nur im Wahlkampf schwer. Erinnerungen an die europäische Frühzeit von Herwig Wolfram.

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Minoritäten bereichern – aber sie haben es nicht nur im Wahlkampf schwer. Erinnerungen an die europäische Frühzeit von Herwig Wolfram.

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Minderheiten sind ein ebenso altes wie aktuelles Phänomen der Menschheitsgeschichte. Es gab und gibt sie aus höchst unterschiedlichen Gründen, als herrschende Eliten ebenso wie als isolierte Unterschichten. Heute kennt Europa im Wesentlichen vier Arten von historischen Minderheiten, wobei eine Minderheit auch zu mehr als einem Typus zählen kann: Die einen sind religiöse Gruppen wie Juden, christliche Nonkonformisten etwa nach Art der Hutterer in Ostmitteleuropa und Übersee oder bodenständige Muslime wie in Bosnien.

Die zweiten bestehen aus Resten eines einstigen Volkes, wie die Rätoromanen in Italien und der Schweiz (heute in Bündnerromanen, Ladiner und Friulaner aufgespalten), die Sorben in Ostdeutschland, die Bretonen an der Atlantikküste, die Basken in Nordwestspanien und Südfrankreich, die Aromunen auf dem Balkan. Die dritte Gruppe ist dadurch entstanden, dass sie durch die Grenzen neuer politischer Einheiten von ihrem bisherigen historisch-ethnischen Zusammenhang getrennt wurde, wie die Frankophonen des Aosta-Tals, die Südtiroler, die Slowenen in Italien und Österreich, die Ungarn in ihren Nachbarländern. Die vierte Art von Minderheit bildeten Zuwanderer, die in der Fremde bessere Lebensbedingungen suchten.

Rassismus hat alte Wurzeln

Die Mehrheit liebt die Minderheit nicht. Diese Ablehnung reicht bis zu einer bestimmten Schule der antiken Ethnografie zurück. Minderheiten würden die Reinheit der Mehrheit verderben und ein Völkergemisch erzeugen, das zu Degeneration und Dekadenz führe. Im Spanien des 16. Jahrhunderts war man kein reinrassiger Godo, kein Spanier "gotischen", das heißt echten edlen Geblüts, fand sich unter 36 Ahnen ein einziger Jude oder Moslem. Die verbrecherischen Theorien und Taten des Rassismus haben alte europäische Vorläufer, wenn sie auch erst im vergangenen Jahrhundert ihren bis dahin unvorstellbaren Höhepunkt erfuhren. So galten die Kapitel 2 und 4 der knapp vor 100 nach Christus entstandenen Germania des Tacitus als Kronzeugen der germanischen Reinrassigkeit. Tatsächlich sagt er aber, die Germanen müssten zum einen unvermischt sein, weil kein vernünftiger Mensch in ihr schreckliches Land ziehen würde, um sich mit den Einheimischen zu vermischen; zum andern, weil Einwanderungen einst zur See erfolgten und der "Ozean" dies "damals" verhindert habe.

Tacitus bezieht sich damit auf die Sage von der trojanischen Herkunft der Römer, auf Vergil und seine Aeneis. Schon die sagenhafte Entstehung des römischen Volkes war das Ergebnis einer Vermischung, die sich mit der Gründung Roms fortsetzte.

"Vermischt" seit der Antike

Am Beginn des Mittelalters stand daher entsprechend der römischen politischen Tradition ein "vermischtes Europa", das der biblische Missionsauftrag und die antik-christliche Literatur verfestigten. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Alle Länder Europas sind gemischt und nicht erst, seitdem sie Einwanderungsländer sind. Im italienischen Alpenbogen von Nizza bis Triest gibt es mindestens zehn verschiedene Minderheiten romanischer, germanischer und slawischer Sprachzugehörigkeit. Zu dieser großen Vielfalt historischer Minderheiten Italiens kommen noch sieben romanische, albanische und griechische Sprachgruppen des Mezzogiorno, Sardiniens und Siziliens hinzu.

Alle diese Minderheiten erheben aber - anders als die großen Völker im ehemaligen Jugoslawien - wie auch die Sephardim von Sarajewo oder die Vlachen Griechenlands und Mazedoniens nicht den Anspruch, eigene Nationalstaaten bilden zu wollen. Sie sind vielmehr treue Staatsbürger, Mitglieder eines modernen demokratischen Nationalstaates. Allerdings bestehen auf Seiten der Mehrheit mentale Barrieren, Minderheiten in einer Weise anzuerkennen, die ihr Fortleben garantieren: Zum einen ihre geografische Isolation. Historische Minderheiten leben vielfach im ländlichen Raum, meist in abgelegenen Gebirgslandschaften. Verlassen ihre Angehörigen die Heimat, werden sie rasch assimiliert und geben ihre Identität auf. Oder sie sind aus sprachlichen Gründen an ihre Heimat gebunden und von jeder sozialen wie ökonomischen Mobilität ausgeschlossen.

Nationalstaat grenzt aus ...

Zum andern reduzieren die modernen demokratischen Nationen jede ethnische Gruppe auf den Status einer gesetzlich geschützten, in Wirklichkeit jedoch bestenfalls geduldeten Minderheit. Auf einer vor kurzem in Wien abgehaltenen Konferenz weigerte sich die serbische Delegation, für ihre Volksgruppe im Kosovo die Garantie besonderer Rechte zu akzeptieren, weil sie dadurch zu einer ethnischen Minderheit würde. Auch sind es die modernen Nationalsprachen, die solche Gruppen bis heute ausgrenzen. Nach anglo-amerikanischem Vorbild verwendet man heute gerne "ethnisch, Ethnika", um die pränationale oder subnationale Existenz von Minderheiten zu erfassen. Tatsächlich sind es aber die modernen Nationen, die aus den Minderheiten erst ethnische Identitäten schaffen oder geschaffen haben, gleichzeitig aber das Bekenntnis dazu ablehnen, ja sogar als Illoyalität gegenüber dem Staat verunglimpfen.

... und schafft Minderheiten

Nun wird die Zugehörigkeit zu einem Nationalstaat durch die Staatsbürgerschaft dokumentiert. Das deutsche Wort Staatsbürger ist eine verhältnismäßig junge Lehnübersetzung, eigentlich nichts anderes als die Verbindung eines erklärenden Bestimmungswortes mit dem Grundwort "Bürger, Stadtbewohner". Das Vorbild des deutschen Begriffs war der revolutionäre citoyen, der den Stadtbürger ohne jeden erklärenden Zusatz dem Staatsbürger gleichsetzte. So war es aber schon in der alten Polis, deren freier Bewohner, der polites, Politik machte, ja, um mit Aristoteles zu sprechen, der eigentliche, weil sich selbst bestimmende Mensch war. Der Landbewohner gehörte und gehört dagegen nicht zu denjenigen Gruppen, mit denen - im Doppelsinn des Wortes - Staat gemacht wurde und wird. Das gleiche gilt für die nach dem civis, Stadtbürger, benannte Zivilgesellschaft. Dagegen kann der Landbewohner in seiner Abgeschiedenheit ruhig fremde Gebräuche üben und eine eigene unverständliche Sprache sprechen, er kann paysan, Bauerntölpel, païen, pagano, Heide, sein oder als sauvage und selvaggio, als ein Wilder Mann und Barbar, im "düsteren Tann" hausen.

Antiurbane Romantik

Vielleicht lässt sich der Außenseiter als folkloristischer Aufputz für den Tourismus gebrauchen? Dabei wäre dies gar nicht die schlimmste Verwendung. Dem offenen und daher notwendigerweise nicht abgeschlossenen Projekt "Aufklärung" stehen stets und überall nach Karl Popper die "Feinde der offenen Gesellschaft" entgegen. Ihre Waffen sind auch eine falsche Romantik, die Suche nach den "echten", das heißt ländlichen Ursprüngen, in denen sich Antiurbanismus mit "gutem altem Brauchtum" bis hin zum Neuheidentum vereinigen. Kein Wunder, dass die Vertreter solcher Ansichten auch die Minderheiten zu Nachkommen "uralter" Natur-und Heldenvölker stilisieren, deren Traditionen es wieder zu beleben gilt, um daraus - etwa im Sinne der modernen Keltomanie - irdische Heilslehren zu gewinnen. Den Minderheiten wird dadurch ein Bärendienst erwiesen, da solche Ansichten der historischen Wahrheit widersprechen und ein falsches Bewusstsein erzeugen, das stets zu falschem Handeln führt.

Die Gegenwart des "vermischten Europa" ist nicht zuletzt auch mit dem Schicksal der Minderheiten verbunden. Sie sind in der Vergangenheit nicht selten deswegen entstanden, weil bestimmte Herrschaftsträger bedrängten und in Not befindlichen Menschen die Chance zur Verbesserung ihrer Lebensqualität boten. Die Slawisierung Istriens und von Teilen Friauls ist auf diese Weise erfolgt; ebenso kamen die Kroaten ins Burgenland, zogen die Walser ins Aostatal, nach Vorarlberg und Tirol, fanden die Mòcheni im Fersental oder die Zimbern in der Hochebene von Asiago eine neue Heimat. Kein Historiker wird freilich die mitunter wüsten Geschichtsmythen der Minderheiten billigen oder gar unterstützen. Daher sei mit voller Zustimmung das Schlusswort einer Denkschrift mazedonisch-aromunischer Vertreter zitiert (nach Karl-Markus Gauß, Die sterbenden Europäer): "Erlauben Sie uns, unsere Kultur zu fördern, wodurch Europa nur reicher und schöner und keineswegs ärmer würde."

Der Autor ist emeritierter Professor für mittelalterliche Geschichte an der Universität Wien.

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